Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Was dem Reiter der gebrochene Huf seines Pferdes, was dem Autofahrer die Reifenpanne, kann dem Flugreisenden von heute der Mitpassagier sein, der es sich im letzten Moment anders überlegt. Früher genügte es, den Betreffenden aus dem Flieger zu geleiten und seinen Koffer aus der Unzahl von Gepäcksstücken heraus zu suchen. Nach dem 11. September 2001 bedeutet ein solcher Zwischenfall, dass alle Passagiere das Flugzeug verlassen müssen, um Hundeführern mit bombenschnüffelnden Vierbeinern Platz zu machen.
So jedenfalls erging es Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, und mit ihm 170 Mitreisenden in der Linienmaschine, beim Heimflug von seinem USA-Besuch. Die Gründlichkeit des Sicherheitspersonals beruht übrigens nicht auf der Prominenz des Gastes - die Beamten am New Yorker JFK-Flughafen verzeichnen derzeit fünf bis sechs derartiger Einsätze täglich.
Einen Vorteil hat ein VIP wie Schüssel aber doch: Er musste sich beim Einsteigen nicht noch einmal der ermüdenden Prozedur der Leibesvisitation unterziehen. Für die ihn begleitenden Journalisten wurde damit allerdings die rekordverdächtige Marke von 13 Sicherheitschecks in drei Tagen erreicht - vom Abflug in Wien über die Besuche im Gästehaus des US-Präsidenten und im Weißen Haus bis hin zur Visite der City Hall in New York.
USA im Mehrfrontenkrieg
Am schärfsten wird jetzt übrigens bei Inlandsflügen kontrolliert. Auf der kurzen Strecke zwischen Washington und New York ist kein Besuch der Toilette möglich; wenn das Flugzeug einmal in der Luft ist, ist es verboten, vom Sitz aufzustehen, heißt es vor dem Abheben.
Die USA befinden sich in einem Mehrfrontenkrieg. Dieser Eindruck, den der österreichische Kanzler bei seinem Besuch bekam, entspricht dem Empfinden der amerikanischen Bevölkerung. Dabei sind die Geschehnisse in Afghanistan im Moment zweitrangig. In der renommierten "Washington Post" sind zehn Seiten mit der Überschrift "Homeland Security" vor den sechs Seiten "War Against Terrorism" platziert, im "Lokalteil" wird noch einmal ausführlich über Milzbrand und Sicherheitsmaßnahmen berichtet. Und in einem ganzseitigen Inserat preist der Chemie- und Pharmakonzern Bayer sein "Cipro" (Ciprofloxacin) als Antibiotikum im Kampf gegen den Bioterrorismus.
Die Firma weist auch daraufhin, dass die Einnahme des Medikamentes nur in Rücksprache mit einem Arzt erfolgen soll. Dennoch nutzen offiziell 20.000 Menschen prophylaktisch Antibiotika - vorwiegend natürlich "Risikogruppen" wie Postbeamte.
Die Postzustellung hat vor allem am Regierungssitz Washington unter den Sicherheitsbemühungen zu leiden. Beeindruckt erzählte Schüssel von versiegelten Briefschlitzen und Verspätungen im Postzulauf von bis zu drei Wochen, in Regierungsstellen wie auch der österreichischen Botschaft. Im Straßenbild kann man neben Absperrungen rund ums Weiße Haus auch wahrnehmen, wie Autos mit Detektoren abgetastet werden, wenn sie in eine Tiefgarage einfahren möchten.
Ob all diese Maßnahmen die Sicherheit tatsächlich erhöhen, ist fraglich. Zwar wurden auf diese Weise - wie fast täglich - auch am Samstag wieder Milzbrandsporen in einer Poststelle in New Jersey entdeckt, ebenso mysteriös wie die Herkunft der Briefe ist aber der jüngste Fall des vierten Anthrax-Todesopfers, einer 61-jährigen Spitalsmitarbeiterin aus New York. Bei ihr ist völlig unklar, wie sie sich infiziert haben könnte, und auch die Experten müssen ratlos eingestehen, dass sie noch täglich dazu lernen müssen.
Krawall am "Ground Zero"
Am Arbeitsplatz der Exil-Vietnamesin aus der South Bronx wurden keinerlei Spuren von tödlichen Keimen gefunden. Diese Hals,- Nasen-, Ohren-Klinik liegt in Manhattan. Dennoch scheint die Anthrax-Angst in New York geringer zu sein als in der Hauptstadt. Der "Ground Zero", die Trümmer des vernichteten World Trade Centers, steht noch zu sehr im Mittelpunkt. So mündete der Versuch von Bürgermeister Rudolph W. Giuliani, die Zahl der Feuerwehrleute, die gleichzeitig auf dem Gelände arbeiten dürfen, aus Gesundheitsgründen auf 25 zu beschränken, in einem Krawall: Elf gegen die Maßnahme protestierende Feuerwehrleute wurden verhaftet, fünf Polizisten sollen bei Rangeleien verletzt worden sein. Mehr als 200 Feuerwehrleute gelten seit dem 11. September noch als vermisst.
Der Großteil der Einwohner will aber trotz allem sichtbaren Gedenken an die Opfer wieder ein "normales" Leben führen. Der Ort des Schreckens wird mit Planen und Planken verborgen - außer den Aufräumungstrupps dürfen nur geladene Besucher, wie Bundeskanzler Schüssel am Freitag, durch die Absperrung, um sich von dem unvorstellbaren Ausmaß der Katastrophe ein eigenes Bild zu machen. Fotos und Fernsehkameras können das nicht. Außer den offiziellen Fotografen darf aber ohnehin niemand Schnappschüsse mitnehmen - das Gelände gilt als "Friedhof", der aus Pietätsgründen nicht abgelichtet werden soll.
Hilfe durch die "Yanks"?
Bürgermeister Giuliani, den alle nur Rudy nennen, glaubt an die Zukunft der Stadt, auch wenn sieben Prozent der Bürofläche zerstört sind: New York werde "stärker denn je" wieder auferstehen, erläutert er seinem österreichischen Gast - wenn, schränkt er ein, nicht wieder etwas Neues passiert. Anthrax hat der Wiedergewinnung des Selbstvertrauens, die bereits begonnen hatte, einen argen Rückschlag versetzt.
Ein Jahr sollen die Aufräumungsarbeiten an der Oberfläche noch dauern, im Untergrund, in dem es immer noch glost, noch länger - die Nationalbank hat für die Bewältigung der Aufgabe soeben 2,7 Mrd. Dollar überwiesen, weitere Unterstützung wird notwendig sein. Österreich will einen kleinen Beitrag leisten: Schüssel brachte Guiliani die Idee mit, im Frühjahr ein Benefiz-Konzert der Wiener Philharmoniker zugunsten der Terroropfer zu veranstalten.
Eine Neuauflage der Twin Towers soll es nicht geben, wenn es nach Giuliani geht. Ihm schwebt eine Gedenkstätte für die nach neuesten Zahlen 4.418 Todesopfer, umrahmt von kleineren Bürogebäuden, vor. Die Entscheidung darüber wird allerdings nicht mehr ihm, der in den letzten Wochen auch einstige Gegner seines harten Law and Order-Kurses für sich eingenommen hat, obliegen: Am Dienstag wird sich entscheiden, ob der etwas farblose Demokrat Mark Green oder der Medienmogul Michael R. Bloomberg, der für die Republikaner kandidiert, ab Jänner in der City Hall regieren werden.
Der Wahlkampf ließ die New Yorker angesichts des Terrors aber eher kalt - ganz im Gegensatz zu Finalkampf ihrer "Yanks" in den World Series der Major League Baseball (MLB). Vor dem Rockefeller Center waren Leinwände aufgebaut, und vor Lokalen, wo man Blick auf den Fernseher hatte, bildeten sich Menschentrauben, um zu sehen, wie die New York Yankees ein verloren geglaubtes Spiel gegen die Arizona Diamondbacks noch umdrehten. Mittlerweile hat Arizona aber mit einem Kantersieg auf 3:3 in der "Best of Seven"-Serie ausgeglichen und hatte im Entscheidungsspiel in der vergangenen Nacht Heimvorteil. Die New Yorker hofften dennoch auf einen Sieg - in Zeiten wie diesen würde er zu dem großen Zusammgehörigkeitsgefühl und zum Selbstvertrauen enorm beitragen.
Weg von der "Insel"
Dass Vertrauen in die eigene Kraft und Unverwundbarkeit ist es auch, das im ganzen Land nachhaltig gestört ist. Nicht nur Anthrax, sondern auch die Möglichkeit von Anschlägen auf Atomkraftwerke oder Brücken - der Gouverneuer von Kalifornien setzt nun zu deren Schutz die Nationalgarde ein, was aber wiederum von Regierungsstellen als übertrieben gewertet wird - sorgt für ständig neue Beunruhigung. Dem Nationalcharakter gemäß wird dies als Herausforderung empfunden - die "New York Times" übertitelt die einschlägige Berichterstattung mit "A Nation Challenged".
Dazu gehört auch, sich der Welt in verstärktem Ausmaß zu öffnen. Gegen einen "Insularismus" der USA hat sich der republikanische Senator Chuck Hagel, Mitglied des außenpolitischen Ausschusses im US-Senat, im Gespräch mit Schüssel gewandt. Dass der österreichische Kanzler als erster seit Bruno Kreisky 1994 in Washington im Blair House residieren durfte - der Name des Gästehauses des US-Präsidenten hat übrigens nichts dem treuen Verbündeten Tony Blair zu tun, sondern geht auf Francis Bacon Blair, vor rund 170 Jahren Zeitungsherausgeber aus Kentucky, zurück - und dass sein Gespräch mit George W. Bush statt einer halben fast eine Stunde gedauert hat, hat nicht nur mit Dankbarkeit für die genehmigten Überflüge Österreichs zu tun. Beobachter registrieren auch sonst eine neue Offenheit gegenüber den Europäern.
Wieder nach New York
So hörte man auch Wolfgang Schüssel intensiv zu, wenn er über seine Eindrücke aus dem Iran und die Initiative "Dialog zwischen den Kulturen" des iranischen Präsidenten Kathami berichtete. Wegen dieses Dialoges wird Schüssel übrigens am Freitag wieder nach New York reisen, um dort an einer UNO-Generaldebatte teilzunehmen. Ursprünglich hätte nur Außenministerin Benita Ferrero-Waldner dorthin fliegen sollen, um zusammen mit den anderen EU-Außenminister mit Colin Powell über den Nahostkonflikt zu beraten.
Auch dieser war Thema des Treffens von Schüssel mit Bush, wird doch diese Weltgegend auch in den USA zunehmend als Schlüssel im Kampf gegen den Terrorismus gesehen. Und beim Mittagessen, das der Kanzler in Washington gab, ließen sich Vertreter von US-Think Tanks genau über die Lage am Balkan informieren und interessierten sich für die Einschätzung Schüssels, ob und wann die Stimmung in Europa zum Militäreinsatz in Afghanistan kippen könnte.
Denn es ist nicht nur die eigene Verunsicherung, die Amerika gegenüber dem Rest der Welt aufgeschlossener macht. Es geht auch darum, dem Kampf gegen den Terror eine möglichst breite Basis zu geben. Und dazu gehört eben auch, die Partner nicht zu belehren, sondern ihnen zuzuhören. Dies ist - nach außen wie nach innen - die dritte Front, an der die USA zu kämpfen haben, um die eigenen Maßnahmen zu rechtfertigen und neue Freunde zu gewinnen: Die der Public Relations. Alleine, das scheint man gelernt zu haben, ist dieser Krieg nicht zu gewinnen.