Ein Brexit wäre fatal für Großbritannien, würde aber auch den Iren schaden, sagt der Ökonom John FitzGerald.
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"Wiener Zeitung": Es gibt starke Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und Irland. Welche Auswirkungen hätte ein Brexit darauf?
John FitzGerald: Der irische Handel mit Großbritannien würde zwar um 20 Prozent einbrechen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Exporte dann woanders hinfließen würden. Es geht also nicht so sehr um einen Rückgang der Exporte, sondern um einen Preisverfall: Um den Marktanteil im Rest der Welt zu erhöhen, müssten irische Produzenten zunächst ihre Preise senken und in die Entwicklung neuer Märkte investieren. Die Bauern würden darunter leiden, dass der Wert ihrer Produkte und die Exportpreise sinken. Für das Vereinte Königreich gelten dieselben Handelseffekte, aber noch verstärkt, denn es handelt mehr mit der EU. London hat keine Handelsabkommen mit den USA oder der EU. Der Effekt wäre für Großbritannien deutlich negativer als für uns.
London müsste neue Handelsabkommen mit der EU ausverhandeln. Kann es mit einem guten Deal nach Vorbild der Schweiz oder Norwegens rechnen?
Nein, sicher nicht. Norwegen zahlt in das gemeinsame Budget ein und hält sich an alle EU-Regulierungen. Es wäre völlig verrückt, wenn Großbritannien nach einem Brexit immer noch einzahlen und sich an die Regeln halten würde. Es müsste also ein anderer, abgespeckter Deal her, der höchstwahrscheinlich nicht ohne Zollabfertigungen und andere Hürden auskommen würde. Deshalb ist der Einzelhandel so bedroht, deshalb ist ein Brexit so gefährlich für die britische Wirtschaft. Die Flügel des Airbus beispielsweise werden in Bristol hergestellt und dann nach Toulouse verschifft. Hier gebe es dann Zolltarife. Es ist schwer, sich ein Abkommen zwischen der EU und Großbritannien nach einem Brexit vorzustellen, das auch nur annähernd so attraktiv sein wird wie jenes mit Norwegen.
Glauben Sie, dass die EU dann ein Exempel statuieren würde?
Man versteht schon, warum die EU das tun würde. Sie muss sagen: Hey, ihr könnt nicht einfach raus und dann Großzügigkeit erwarten - auch, wenn das aus einer irischen Perspektive wünschenswert wäre. Ein weiteres Problem ist, dass die Briten aus den bereits bestehenden Handelsabkommen herausfallen würden. Sie müssten alles neu verhandeln: mit Indien, China, Mexiko, den USA. Das dauert Jahre.
Was geschieht bei einem Brexit mit dem Finanzplatz London?
Eine Hauptsorge ist, dass ein Großteil des Londoner Finanzmarkts abziehen würde. Ein Teil könnte nach Dublin übersiedeln. Im Moment haben wir hier mit einer Wohnungskrise zu kämpfen, schon heute sehen sich viele Unternehmen nach Büroräumen in der Stadt um. Das würde mehr werden. Büroraum ist rar, aber nicht so knapp wie Wohnraum. Stellen Sie sich vor, da kommen 10.000 Menschen von der City of London nach Dublin, das hätte einen riesigen negativen Einfluss auf das Wohnproblem. Ein anderes Problem ist der Einzelhandel: Die meisten Geschäfte hier in der Innenstadt sind britisch. Sie importieren ihre Produkte per Lkw aus England, momentan ohne Zollabfertigung. Nach einem Brexit würde sich das ändern, es gebe einen riesigen, für den Einzelhandel sehr teuren Aufwand.
Was ist mit Frankfurt als Ersatz für London?
Der Großteil würde wohl dorthin umsiedeln; für Dublin sind aber 10.000 Jobs eine ganze Menge. Es könnten auch mehr sein. Es gibt Gründe, wieso bereits viele Unternehmen hier Zweigstellen eröffnet haben. Es geht dabei unter anderem um die Sprache.
Nach einem Brexit wäre Dublin die größte englischsprachige EU-Stadt.
Deshalb könnte ein Teil hierher übersiedeln. Der Handel würde nach Frankfurt gehen, aber das rechtliche System, die Buchhaltung, das Backoffice, all das wäre in Dublin besser aufgehoben.
Das wäre ja gut für die Wirtschaft.
Ja, es gibt auch positive Seiten. Als der britische Premier David Cameron vor drei Jahren in Indien für Investments in Großbritannien warb, sagten die Inder: Wir warten erst mal ab, ob ihr in der EU bleibt. Indische Unternehmen arbeiten auf Englisch, auch sie könnten sich hier ansiedeln.
Heißt das, ein Brexit hätte zwar auch positive Folgen für Irland, aber die negativen überwiegen?
Ja, die Folgen wären wohl eher negativ. Doch die Hauptsorge der Iren ist nicht wirtschaftlich motiviert, sondern politisch.
Sie sprechen von Nordirland? Die protestantischen Unionisten sind für einen Brexit, die Nationalisten dagegen. Wird es bei einem Austritt wieder Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland geben?
Genau. Die Sorge ist, dass alte Wunden aufgerissen werden, Probleme aus der Vergangenheit wieder auftauchen. Die Situation im Norden war in den vergangenen Jahren das größte Risiko für Irland. Dublin hat ein großes strategisches Interesse am Frieden im Norden.
Die EU steckt Millionen in den Friedensprozess in Nordirland.
Ja, aber das meiste Geld, zwei Drittel des nordirischen Einkommens, kommen aus London. Die Wirtschaft ist komplett abhängig. Die Angst ist, dass, wenn Schottland Großbritannien verlässt und der EU beitritt, Nordirland zum Waisenkind wird. Das Letzte, was Irland will, ist eine Wiedervereinigung mit Nordirland, das wäre eine ökonomische Katastrophe. Bleiben England und Nordirland alleine übrig, dann wird sich auch die Einstellung Londons gegenüber Nordirland ändern - ins Negative. Wir wollen aber, dass London Belfast weiterhin unterstützt.
Das Karfreitagsabkommen von 1998 legt fest, dass Nordirland sich an die Republik anschließen kann, wenn eine Mehrheit der Nordiren dafür stimmt. Ist das denkbar?
Für den Norden gibt es keinen ökonomischen Anreiz, sich Irland anzuschießen. Der Norden ist komplett von London abhängig, es würde horrende Summen kosten, den Lebensstandard der Menschen dort zu erhalten. Die Nordiren würden also einen extremen Rückgang des Lebensstandards verbuchen, wir sprechen von mindestens 30 Prozent, während er in Irland um zehn bis 15 Prozent sinken würde. Die Vereinigung ist, zumindest zu meinen Lebzeiten, nicht machbar. Auch für die Iren gibt es keinen Anreiz, sich dafür auszusprechen. Das wäre nicht nur ein ökonomisches Desaster für Irland. Im Norden gibt es eine kleine, unzufriedene Minderheit und einige Sicherheitsbedenken - wieso sollten wir Nordirlands Probleme mit an Bord nehmen?
Wie sieht es mit der Freizügigkeit von Arbeitskräften aus? Die Bewegungsfreiheit gibt es seit Jahrhunderten, viele Iren arbeiten in Großbritannien.
Die Frage, wer in einem Land arbeiten darf, ist Sache der Nationalstaaten, nicht der EU. Es wäre also möglich für Irland und Großbritannien, ein Abkommen zu finden, das es beiden Nationen erlaubt, Bürgern des jeweils anderen Landes eine Arbeitserlaubnis auszustellen. Doch die Briten haben mehr als eine Million Staatsbürger, die in Frankreich, Spanien oder anderswo im EU-Ausland leben. Was wäre nach einem Brexit ihr Status? Diese Unsicherheiten werden das Leben sehr schwer machen.
Wie werden die Briten am 23. Juni abstimmen?
Die Chancen stehen dafür, dass sie für einen Austritt stimmen. Vor sechs Monaten hätte ich gesagt, es wird 60 zu 40 für einen Verbleib sein. Heute denke ich, dass etwa 55 Prozent für einen Brexit stimmen werden.
John D. FitzGerald,geboren 1949 in Dublin, leitet das Makroökonomische Institut im Dubliner Economic and Social Research Institute (ESRI). Der studierte Historiker und Ökonom hat wesentliche Beiträge zur Wirtschaftspolitik Irlands geleistet - vom Festlegen der Investitionsprioritäten über EU-Strukturförderungen bis hin zu Energiepolitik und Fragen der Währungsunion.