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"Die Angst ist verschwunden"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Von der Gezi-Park-Bewegung hört man kaum noch etwas, doch sie dürfte die Türkei nachhaltig verändert haben.


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"Wiener Zeitung": Im Frühsommer waren Hunderttausende in der Türkei auf den Straßen, um gegen die Bebauung des Istanbuler Gezi-Parks und die als autoritär empfundene Politik von Premier Recep Tayyip Erdogan zu protestieren. Zuletzt ist es aber ruhig geworden um die Gezi-Park-Aktivisten. Haben wir bereits das Ende dieser Bewegung gesehen?Demet Dinler: Ich glaube nicht, dass das schon das Ende ist. Sowohl mir wie auch vielen anderen war bewusst, dass es nicht möglich ist, in einem Tag eine politische Alternative zu schaffen. Die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen - Sozialisten, Nationalisten, Feministen, antikapitalistische Moslems und Vertreter der Jugend - sind hier ja zum ersten Mal zusammengekommen, um die Macht Erdogans infrage zu stellen. Und kaum jemand hatte Erfahrung, wie man unter solchen Umständen organisatorisch zusammenarbeitet. Keiner hat also erwartet, dass da plötzlich eine straff organisierte Bewegung entsteht.

Da sich die Gezi-Park-Bewegung aus so vielen unterschiedlichen Gruppierungen zusammengesetzt hat, gab es auch sehr viele unterschiedliche und oft wenig konkrete Ziele. Wirklich einig war man sich ja nur in der unrealistischen Forderung, dass Erdogan zurücktreten müsse. War diese Heterogenität der Wünsche nicht letztendlich ein entscheidendes Problem?

Ich glaube, das war sowohl eine Stärke wie auch eine Schwäche. In der Türkei hat es in den vergangenen 30 Jahren so viel Polarisierung gegeben: zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen Arm und Reich, zwischen den Türken und den Kurden. Und unter diesem Gesichtspunkt war das Zusammentreffen der verschiedenen Gruppierungen auf jeden Fall eine gute Sache. Vor den Gezi-Park-Protesten hätten viele es für unmöglich gehalten, mit den anderen Gruppen zusammenzuarbeiten. Doch dann haben sunnitische Muslime gemeinsam mit Alewiten Demonstrationen organisiert und Büroangestellte sind sich bewusst geworden, dass sich ihre Probleme häufig nicht von denen der Schwerarbeiter unterscheiden. Man hat voneinander gelernt. Andererseits ist durch diese Heterogenität und die diffusen Ziele mit der Zeit auch das Momentum des Protests verloren gegangen.

Der Meinung vieler Beobachter nach ist dieses Momentum auch verloren gegangen, weil es keine politischen Organisationsstrukturen gab und diese auch nie angedacht wurden. Gibt es nun Pläne für die Gründung einer Partei?

Es gab bereits solche Diskussionen, doch viele waren der Ansicht, dass es dafür noch zu früh ist. Man kann zwar rasch eine Partei gründen, doch dann muss man Strukturen schaffen und Vertreter wählen - und das ist schon viel schwieriger. Hinzukommt, dass es eben sehr viele unterschiedliche politische Ansichten gibt, Feministinnen und Nationalisten lassen sich da nur schwer unter einen Hut bringen. Erfolgsversprechender ist im Augenblick noch, konkrete Anliegen in Form von nachbarschaftlichen Bürgerbewegungen auf kommunaler Ebene voranzutreiben. Damit lässt sich Druck auf die bestehenden Parteien ausüben.

Letztendlich hat Erdogan aber doch gewonnen. Er ist nach wie vor im Amt und hat kaum Zugeständnisse machen müssen.

Veränderung passiert nicht an einem Tag. Man muss das in der historischen Perspektive betrachten. Vor den Demonstrationen wurde der neoliberale Kurs in der Türkei zu keinem Zeitpunkt öffentlich infrage gestellt, obwohl viele in den vergangenen Jahren damit nicht einverstanden waren. Nun wird auf einmal nach Alternativen Ausschau gehalten. Und dass Erdogan dermaßen hart auf die Proteste reagiert hat, ist auch dem Umstand geschuldet, dass er sie in diesem Ausmaß nicht erwartet hatte. Ich glaube, er war wirklich erschrocken. Und die Menschen wissen nun, dass sie etwas bewirken und der Regierung Angst einjagen können.

Abgesehen von den Punkten, die Sie bereits angesprochen haben - wie sehr haben die Gezi-Park-Proteste die Türkei verändert?

Ich glaube, dass die Demonstrationen auch die Angst aus der Türkei vertrieben haben. Die Menschen fühlen sich nun nicht mehr isoliert und allein. Die Gezi-Park-Bewegung war zudem unglaublich kreativ, voller Humor und signalisierte Aufbruch. Man kann fast von einem massenpsychologischen Effekt sprechen, der die Türkei erfasst hat. Die Menschen haben begonnen, sich viel stärker für die Dinge zu interessieren, die rund um sie passieren.

Am Dienstag hat die EU entschieden, ihre Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die ja wegen der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste unterbrochen waren, fortzusetzen. Damit ist auch der Druck auf Erdogan geringer geworden. Ist das nun gut oder schlecht?

Erdogan hat ja am Höhepunkt der Proteste zu verstehen gegeben, dass ihn die Besorgnis der EU wenig kümmert. Aber prinzipiell bin ich der Meinung, dass es gut wäre, wenn die Europäer in dieser Hinsicht ihren Druck auf Erdogan aufrechterhalten.

Demet Dinler hat die Proteste in der Türkei als Soziologin wissenschaftlich begleitet, war aber auch als Aktivistin tätig. Sie war auf Einladung des Wiener Instituts für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit in Wien.