Knapp eine Woche vor den entscheidenden Kongresswahlen herrscht in den USA der politische Ausnahmezustand.
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Washington. Systematisch Furcht zu säen ist seit jeher eine effektive politische Waffe; die Frage ist nur wovor. Im Amerika des Herbstes 2018 sind die Fronten diesbezüglich geklärt. Während sich die eine Hälfte davor fürchtet, dass die von ihnen gewählten Vertreter in Washington Bomben mit der Post bekommen, hat die andere Angst davor, dass ein paar tausend derzeit durch Mexiko ziehende Honduraner in den kommenden Wochen illegal die Grenze zum Norden überschreiten. Die Prioritäten von Kristjen Nielsen, der von Präsident Donald Trump eingesetzten Chefin des Department of Homeland Security, das sämtliche Sicherheitsdienste des Landes unter seinem Dach vereint, sind klar: "Notfalls werden die Mitglieder der Grenzpatrouille schießen, um sich zu verteidigen." Zur Untermauerung ihrer Botschaft deponierte sie sie jetzt kaum zufällig im Rahmen eines Besuchs an der mexikanischen Grenze. Dort, wo nach dem Willen Trumps irgendwann einmal eine Mauer stehen soll.
Kein Hauch von Mitgefühl
Am Dienstag, 6. November, finden in den USA Kongress- und Regionalwahlen statt, und knapp eine Woche vor dem Urnengang herrscht in nahezu jeder Hinsicht der politische Ausnahmezustand. Insofern nicht zu Unrecht, als das, was auf dem Spiel steht, tatsächlich in keiner Weise zu unterschätzen ist. Wenn es den Demokraten wirklich - und darauf deuten bisher alle Umfragen hin - gelingt, die vor acht Jahren verlorene Mehrheit im Abgeordnetenhaus zurückzuerobern, kann sich Trump auf eine Lawine aus rechtlichen und politischen Winkelzügen einstellen, die ihm das Regieren dauerhaft erschweren werden. Die langfristigen Auswirkungen sind aber vielleicht sogar noch wichtiger. Denn wenn es den Linksliberalen gelingt, die in den Obama-Jahren verloren gegangenen Mehrheiten in den meisten Lokalparlamenten der Bundesstaaten zurückzugewinnen, würde ihnen das erlauben, die unter den Republikanern in den vergangenen zehn Jahren teilweise massiv manipulierten Wahlbezirke umzuzeichnen. Was wiederum erklärt, warum der diesmalige Wahlkampf zu den Midterms als einer der härtesten aller Zeiten in die politische Geschichte der USA eingehen wird.
Ein Beispiel par excellence dafür bietet weniger die aktuelle Bombenserie gegen führende Köpfe der Demokraten und andere Trump-Kritiker (am Freitag wurde ein Verdächtiger verhaftet, davor bekamen auch Cory Booker, US-Senator aus New Jersey, und James Clapper, der ehemalige Direktor für Nationale Sicherheit, Post vom Attentäter), als die Reaktion der Republikaner darauf, die zwischen Achselzucken und blanker Ignoranz oszilliert. Hinter der Zurückhaltung Trumps wie jener der republikanischen Führung steckt freilich eine so kalkulierte wie zynische Strategie: Sie hoffen darauf, dass die Reaktionen auf die Anschläge mithelfen, quasi in letzter Minute die Parteibasis zu aktivieren. Nachdem sich diese in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahezu bis zur Unkenntlichkeit radikalisiert hat, kann es sich heute praktisch kein einziger rechter Politiker mehr leisten, für den politischen Gegner auch nur einen Hauch Mitgefühl zu äußern.
In Trumps Amerika gilt dieser Zustand mittlerweile als normal. Entsprechend zeigen sich auch die Methoden, die angewandt werden, um die seit 2016 herrschende, totale Dominanz der Republikaner auf Bundesebene - Weißes Haus, Senat, Abgeordnetenhaus, Höchstgericht - um jeden Preis zu erhalten. Im Bundesstaat Georgia etwa, in dem ein signifikanter Anteil an Afroamerikanern lebt, ließ der konservative Gouverneurskandidat Brian Kemp jetzt einfach zehntausende Wähler von der Wählerliste streichen. In einer den Medien zugespielten Audioaufnahme sagt er ganz offen warum: "Wo kommen wir hin, wenn diese Leute plötzlich wählen gehen?"
Ein Sittenbild, das mittlerweile weit über den Süden des Landes, den traditionellen Bastion der Konservativen, hinausreicht. Was Leute wie Kemp und seine Parteifreunde eint, lässt sich am treffendsten unter dem Titel "Angst vor dem Alabama-Effekt" zusammen fassen. Anfang Dezember vergangenen Jahres fand in dem Bundesstaat, der bis dahin als die ultimative rechte Bastion galt, eine kleine Revolution statt, deren Schockwellen bis heute andauern. Im Rahmen einer außerordentlichen Senatorenwahl setzte sich damals der liberale Kandidat Doug Jones gegen den ultrarechten Richter Roy Moore durch. Praktisch überall, wo die Republikaner in den Bundesstaatsparlamenten über Mehrheiten verfügen, lassen sie als Konsequenz aus diesem Desaster seitdem nichts mehr unversucht, um die Wähler von Minderheiten davon abzubringen, von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen.
Umgefärbte Richterbänke
Warum ihnen das vergleichsweise leicht fällt, liegt nicht zuletzt an der fortschreitenden Politisierung der Justiz. Das Muster und der Mechanismus stellen sich in diesem Kontext immer gleich dar: Wie vor kurzem auf Bundesebene geschehen, wo der erzkonservative Brett Kavanaugh trotz eines gut dokumentierten Rufs als trinkfreudiger, mit einem zweifelhaften Frauenbild ausgestatteter Grapscher auf der Supreme-Court-Bank Platz nehmen durfte, konzentrierten sich die Konservativen in den vergangenen Jahren überall, wo sie an die Macht kamen, zuerst darauf, dauerhaft die Richterbänke "umzufärben".
Eine Strategie, die jetzt schlagend wird und sich am offensichtlichsten am Beispiel Ohio zeigt. Nachdem dort hunderttausende Wähler, die nicht zufällig zu 80 Prozent ethnischen Minderheiten angehören, jüngst per Dekret von heute auf morgen ihr Wahlrecht verloren, oblag es zunächst den lokalen Richtern, über die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme zu entscheiden. Nachdem die überwältigende Mehrheit ebendieser von konservativen Gouverneuren eingesetzt und von konservativen Mehrheiten abgesegnet wurden, entschieden diese entsprechend. Aufgrund seiner potenziellen Vorbildwirkung landete die Sache am Ende vor dem Supreme Court in Washington, auf dessen Bänken die Republikaner ebenfalls über eine - nunmehr dauerhafte - Mehrheit verfügen. Seine Entscheidung: Die Streichung von Wählern, die nicht regelmäßig von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, sei rechtmäßig.