Viele Südafrikaner fürchten, dass nach Mandelas Tod alte Wunden aufbrechen.
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Johannesburg. Philip Sikhumbuzo hat seine beiden Kinder mitgebracht. "Es ist spät, aber das ist ein historischer Tag", sagt der 35-jährige Geschäftsmann, der unmittelbar nach der Todesnachricht gemeinsam mit hunderten anderen in den noblen Johannesburger Vorort Houghton gepilgert ist. "Und ich will, dass sich meine Kinder daran erinnern, wer Nelson Mandela war." Die Kleinen, die nun an der Hand ihres Vaters vor dem Haus jenes Mannes stehen, der quer durch alle Lager als Vater der südafrikanischen Nation galt, haben noch immer ihre Pyjamas an.
Über Monate hinweg hatten die Südafrikaner schon widerstrebend versucht, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die zuletzt schwer kranke Anti-Apartheids-Ikone nicht für immer da sein wird, doch jetzt, wo die Gewissheit da ist, zeigt sich das Land umso geschockter, trauriger und aufgewühlter. Überall in Südafrika wird zu Ehren von Mandela gesungen, gebetet und getanzt. Viele sind am Freitag schon seit den frühesten Morgenstunden auf den Beinen, nachdem sie von Freunden und Verwandten mit der Todesnachricht aus dem Bett geklingelt wurden.
Im Gedenken an den Friedensnobelpreisträger blitzt vor allem Mandelas Vision der Regenbogennation auf, die die alten Gräben überwindet und in der Hautfarbe, Herkunft und Stand keine Rolle mehr spielen. Auch Präsident Jacob Zuma spricht in seiner Fernsehansprache von einer "Nation vereint in Trauer".
"Keine Chance ohne Madiba"
Doch während von allen Seiten die Werte beschoren werden, für die der große Mann Südafrikas stand, dringt auch schon ein Gefühl des Unbehagens nach oben. Mandela, der von seinem Clan und vielen Menschen im Land nur Madiba genannt wird, galt auch knapp 15 Jahre nach seinem Rücktritt als Präsident als moralische Instanz und Kompass Südafrikas. Jeder Politiker musste sich implizit der Frage stellen, ob seine Vorhaben im Einklang mit Mandelas Erbe stehen. Und innerhalb des regierenden ANC galt der Verweis auf Madiba quasi als Legitimierung des eigenen Handelns.
Dass dieser Einfluss immer stärker zu erodieren beginnt und es nicht viel braucht, um die Wunden aus der Zeit der Apartheid wieder aufzureißen, haben vor allem die vergangenen Monate deutlich gezeigt. In der zuletzt erbittert geführten politischen Auseinadersetzung hatten die immer noch großen Gegensätze zwischen Schwarz und Weiß eine erhebliche Rolle gespielt. Vor allem der ehemalige ANC-Jugendführer Julius Malema, der nun eine eigene linkspopulistische Partei führt, hatte mehr denn je gegen die weißen Reichen agitiert, um sein Profil vor den im April bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu schärfen.
Die Angst, in einem von persönlichen Machtinteressen überlagerten politischen Kleinkrieg unterzugehen, geht vor allem in der schwarzen Unterschicht um. "Ohne Madiba habe ich das Gefühl, keine Chance zu haben", sagt etwa der 36-jährige Joseph Nkosi, ein Security-Mann aus dem Township Alexandra. "Die Reichen werden immer reicher werden und auf uns wird vergessen. Die Armen spielen für sie keine Rolle. Man muss sich unsere Politiker nur anschauen, da gibt es keinen von der Gestalt Madibas."
Wer das Vermächtnis Mandelas weiterführen könnte, ist tatsächlich unklarer denn je. Denn Präsident Jacob Zuma wird von vielen Südafrikanern mittlerweile eher als Problem denn als Lösung angesehen. Seit Zuma 2009 das Amt übernommen hat, war der ANC in dutzende Korruptionsskandale verstrickt und musste sich immer wieder mit dem Vorwurf der Vetternwirtschaft auseinandersetzen. Zuma selbst sah sich erst vor kurzem mit der Anschuldigung konfrontiert, er hätte auf Staatskosten einen großzügigen Pool auf seinem Privatanwesen errichten lassen - getarnt als sicherheitsrelevanter Löschteich.
Dem Präsidenten wird aber vor allem zur Last gelegt, die enormen sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht gemildert zu haben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei offiziell 25 Prozent, zudem lebt die Hälfte der Bürger in der größten Volkswirtschaft Afrikas statistisch von weniger als zwei Euro pro Tag. Die sozialen Spannungen entladen sich immer wieder in blutigen Protesten, bei denen es an einem Tag um zu niedrige Löhne und am nächsten um fehlende Toiletten geht. Das kollektive Innehalten, das Südafrika angesichts von Mandelas Tod erfasst hat, dürfte also nur temporär sein. "Madiba war der Einzige, der alles noch zusammengehalten hat", sagt die Sekretärin Sharon Qubeka.