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Die Angst vor dem Domino-Effekt

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv
Tierschützer gegen die EU-Verfassung - in Oosthuizen, 32 Kilometer von Amsterdam entfernt, bindet Menno Herstel Kühe in seinen Protest gegen das Vertragswerk ein. AP/Dejong

Katerstimmung in Europa: Wenn sogar Europa-Begeisterte die EU in eine Phase der Stagnation gleiten sehen, dann hat dies nicht nur mit der drohenden Ablehnung der EU-Verfassung zu tun. Die zähen Verhandlungen über das Unionsbudget, eine geschwächte Wirtschaft und nationale Wahlkämpfe lassen bei vielen Europa-Müdigkeit aufkommen.


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Gerhard Schröder bringt sich ein. Schon zweimal rief der deutsche Bundeskanzler in Frankreich die Bevölkerung zu einem Ja zur EU-Verfassung auf, ein drittes Mal war Donnerstagabend bei einer Veranstaltung der sozialistischen Fraktion in Toulouse geplant.

Auch andere europäische Politiker reisten nach Frankreich, um die Regierung von Jacques Chirac in ihrer Kampagne für das Vertragswerk zu unterstützen. Schon bald könnten sie aber ihre Hilfe in anderen EU-Staaten anbieten. Denn eine Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und drei Tage später in den Niederlanden könnte erst der Anfang sein. In Polen, wo im Herbst abgestimmt wird, könnte sich die derzeitige Zustimmung zum Vertragswerk in Skepsis wandeln. Und für das Referendum in Großbritannien im kommenden Jahr wird bereits jetzt ein Nein befürchtet.

Einen offiziellen Alternativplan, sollte die Verfassung scheitern, gibt es nicht. Dafür ein paar Szenarien. Im Falle einer Ablehnung des Dokuments in Frankreich und den Niederlanden müssten die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen im Juni das weitere Vorgehen abklären. Entscheidungen über wichtige Vorhaben, wie der Beschluss des EU-Finanzrahmens für die Jahre 2007 bis 2013, könnten sich verzögern. Ein Rückschlag für den gesamten Integrationsprozess der EU wird befürchtet.

Sollten lediglich die Niederländer Nein sagen, könnte der Wahlgang wiederholt werden - wie etwa die Abstimmung über den Maastricht-Vertrag in Dänemark vor mehr als zehn Jahren. Auch der französische Staatspräsident Jacques Chirac könnte im Falle einer Ablehnung ein weiteres Referendum ansetzen.

Nationale Anliegen

Dass in die Debatten um die EU-Verfassung sich auch andere Themen mischen, liegt nicht nur daran, dass das Dokument komplex ist.

In vielen Ländern könnten die Wählerinnen und Wähler das Referendum zu einem Denkzettel für die Regierungen umgestalten. Sinkende Popularitätswerte hat sowohl Chirac als auch der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende.

http://www.wienerzeitung.at/bilder/artikel/euverfassung.gif Die polnische Regierungspartei SLD (Bündnis der demokratischen Linken) könnte nach der kommenden Parlamentswahl sogar den Wiedereinzug in den Sejm verfehlen - und bei der zeitgleich stattfindenden Volksabstimmung über die EU-Verfassung eine zusätzliche Niederlage erleiden.

Sowohl Deutschland als auch Frankreich haben mit hohen Arbeitslosenzahlen und geringem Wirtschaftswachstum zu kämpfen. Der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung muss Schröder im derzeit beginnenden Wahlkampf etwas entgegen setzen - und kann wohl eher mit nationalen denn europäischen Themen punkten.

Die Pläne, im Oktober EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, stoßen jetzt schon in dem meisten alten EU-Staaten auf Widerwillen. Ihre Unterstützung für Gespräche mit Ankara könnten etliche Regierungschefs in Wahlkampfzeiten abschwächen. Europa rückt zunehmend aus dem Blickpunkt.

All dies hat mit der europäischen Verfassung nichts zu tun. Doch die Möglichkeit besteht, dass viele Menschen gerade darüber abstimmen wollen - und dies bei den kommenden Referenden tun.