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Die Ukraine befürchtet eine ähnlich grausame Belagerung ihrer Städte, wie sie die UdSSR bei der Leningrader Blockade unter den Nazis erlebt hat. Mariupol ist bereits von Truppen umstellt.
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Die Leningrader Blockade hat sich tief in das kollektive Gedächtnis Russlands eingebrannt. 872 Tage lange hat die Wehrmacht die Stadt nach ihrer Umzingelung im September 1941 belagert. Als Leningrad schließlich am 27. Jänner 1944 durch einen großen sowjetischen Entsatzangriff befreit werden konnte, waren bereits mehr als eine Millionen Zivilisten in der Stadt tot - die allermeisten von ihnen waren während der Belagerung verhungert.
Die Auslöschung der Leningrader Bevölkerung war von der Wehrmacht allerdings nicht nur billigend in Kauf genommen worden. Die Luftwaffe vernichtete mit mehreren Angriffen auch ganz gezielt Getreidespeicher und Lagerhäuser, um die Ernährungssituation in der eingeschlossenen Stadt weiter zu verschärfen. "Ziel war die Vernichtung Leningrads durch den Hungertod", schreibt der Osteuropa-Historiker Timothy Snyder in seinem wegweisenden Buch "Bloodlands".
Knapp 80 Jahre danach geistert die Leningrader Blockade, die zu den schwersten Kriegsverbrechen Nazi-Deutschlands zählt, nun wieder durch die Köpfe. Doch die bedrohten und eingekreisten Städte liegen diesmal nicht in Russland, sondern in der Ukraine, die sich Wladimir Putin seit einer Woche mit Panzern und Soldaten untertan zu machen versucht. "Seit sieben Tagen zerstören sie gezielt unsere kritische Infrastruktur und schneiden uns von der Nahrungsmittelversorgung ab", heißt es in einem am Donnerstag veröffentlichten Hilferuf des Stadtrats von Mariupol. "Wir haben kein Licht, kein Wasser, keine Heizung. Sie belagern uns so wie damals in Leningrad."
Das knapp 440.000 Einwohner zählende Mariupol war aufgrund seiner geografischen Nähe zu den von Kreml-treuen Separatisten kontrollierten Gebieten in der Ostukraine gleich zu Beginn des russischen Einmarsches unter schweres Feuer gekommen. Doch anderes als etwa in Kiew konnte die ukrainische Armee die Umzingelungsversuche in den ersten Tagen nicht verhindern. Die russischen Angreifer zogen ihren Belagerungsring rasch enger und schnitten die strategisch wichtige Hafenstadt von der Außenwelt ab.
Leere Regale allerorts
Nach Einschätzung der Stadtverwaltung braucht es nun dringend die Einrichtung eines humanitären Korridors, um Mariupol wieder versorgen zu können und eine menschliche Katastrophe von enormen Ausmaß zu verhindern. Denn sieben Tage nach Kriegsbeginn sind auch die Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte in der Stadt leer, die Vorräte an einigen Medikamenten gehen ebenfalls zur Neige. Ob Russland einem solchen Korridor für Mariupol zustimmt, ist jedoch fraglich. Zwar haben sich die russische und die ukrainische Delegation bei ihren Verhandlungen am Donnerstag prinzipiell auf die Einrichtung von sicheren Passagemöglichkeiten für Zivilisten geeinigt, doch wo genau und unter welchen Bedingungen diese errichtet werden sollen, wurde noch nicht festgelegt. Zuletzt hatten die Separatisten aus den Rebellengebieten mit einem Sturm auf die Hafentadt gedroht.
Ein ähnliches Schicksal wie Mariupol droht in den nächsten Tagen unter Umständen auch Charkiw, wo Russland eine Einkreisung vielleicht schneller gelingt als im Fall der Hauptstadt Kiew. Schon seit Tagen versuchen russische Truppen, die Schlinge um Charkiw enger zu ziehen, nach dem Angriff auf zentrale Verwaltungsgebäude und zivile Wohnhäuser mit schwerer Artillerie und Fliegerbomben gab es zuletzt heftige Kämpfe im Westen der zweitgrößten ukrainischen Stadt. Massive Versorgungsprobleme gibt es trotz des nach wie vor vorhandenen Zugangs in die Stadt bereits jetzt schon. "Unsere Häuser sind zerbombt, wir und unsere Kinder wurde angegriffen. Wir können nicht einmal Brot kaufen", sagt die in Charkiw lebende Maria Zakharova gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Aufgeben will in der Stadt, in der vor allem russisch gesprochen wird und die mittlerweile vielerorts einer Trümmerwüste gleicht, dennoch niemand.
Bereits eingenommen dürften die russischen Soldaten dagegen schon Cherson haben. Die "Besatzer" seien in allen Teilen der nordwestlich der Krim liegenden Stadt und "sehr gefährlich", heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Mitteilung der dortigen Behörden. Für die unmittelbare Versorgung der Zivilsten dürfte die Einnahme von Cherson aber wohl nur eine marginale Verbesserung bedeuten. Denn schon seit Beginn der Invasion kämpft die russische Armee selbst mit Versorgungsproblemen, gefangen genommene Soldaten sind oft regelrecht ausgehungert. Die Sicherstellung der Versorgung in den besetzten Gebieten dürfte daher wohl kaum auf der Prioritätenliste der Eroberer stehen.