Die Panik vor dem Referendum in Griechenland berührt Grundsatzfragen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Es wäre ein interessantes Experiment gewesen, ob die vom US-Journalisten James Surowiecki proklamierte These von der "Weisheit der Vielen" der Realität standhält. Eine Volksabstimmung über die Sparmaßnahmen in Griechenland hätte überprüfen lassen, ob gemeinsame Gruppenentscheidungen oft besser sind als Lösungsansätze Einzelner.
Der Originaltitel "Wisdom of Crowds", den der Autor seinem Bestseller gegeben hat, spielt übrigens auf ein schon 1841 erschienenes Werk an: In "Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds" ("Außergewöhnliche populäre Illusionen und der Wahnsinn von Massen") beschrieb der schottische Journalist Charles Mackay Irrwege, die die Massen erfasst haben: Sein Spektrum reicht dabei von den Kreuzzügen über die Hexenjagden des Mittelalters bis zu ökonomischen Blasen wie der Spekulation mit Tulpenzwiebeln in den Niederlanden des frühen 17. Jahrhunderts.
Kai Strittmatter, Journalist der "Süddeutschen Zeitung", scheint in seinem Beitrag zum griechischen Referendum eher dem Schotten zuzuneigen, was die Skepsis gegenüber volkstümlicher Weisheit betrifft: In Wirklichkeit wäre das Referendum kein Test des Volkswillens gewesen, weil die Griechen nur die Wahl gehabt hätten zwischen Hölle und Fegefeuer, das heißt zwischen ungeordnetem Bankrott und den Lebensatem raubenden Spaßmaßnahmen. Zudem bemüht er ebenso wie andere Kommentatoren das alte Argument gegen die direkte Demokratie, dass bei solchen Abstimmungen nie nur über die Sache selbst entschieden werde, sondern die verschiedensten Emotionen hineinspielen würden, etwa der Wunsch, die Regierung zu bestrafen. In diesem Sinne plädiert Strittmatter für die herkömmliche Alternative, das Volk anzuhören: für Neuwahlen.
Volkswille als Zumutung
Ganz anderer Meinung ist Frank Schirrmacher von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Er verweist darauf, dass erst kürzlich die Mitbestimmungsrechte des deutschen Parlaments bei der Euro-Rettung gestärkt wurden und alle Parteien über das Mehr an Demokratie jubelten. Und er beklagt, dass dieser Wille zur Demokratie in der Diskussion über den Vorstoß des griechischen Premiers nicht spürbar war und Giorgos Papandreous Worte "Der Wille des Volkes ist bindend" als Zumutung empfunden wird. Schirrmachers Schlussfolgerung: Man überlasse "Ratingagenturen, Analysten und irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse".
Diese kontroversen Standpunkte passen nicht ganz mit dem jeweiligen Image der Zeitungen zusammen, in denen sie erschienen sind, der als linksliberal geltenden "Süddeutschen" und der konservativen "FAZ". Der bürgerliche "FAZ"-Mitherausgeber Schirrmacher ist ja auch schon dadurch aufgefallen, dass er angesichts der zügellosen Finanzmärkte und der CDU-Politik bekannte: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat."
Wie viel Entscheidung?
Aber die Kontrahenten greifen damit auch eine Diskussion auf, die so alt ist wie die Demokratie selbst: Wie viel freie Entscheidung ist den Bürgern zumutbar?
Es ist kein Zufall, dass Demokratie in den meisten westlichen Staaten vor allem in der Abhaltung von Wahlen besteht. Seit jeher hegen die Politik, aber durchaus auch liberale Eliten trotz ihrer Bekenntnisse zur Volksherrschaft Skepsis gegenüber den Massen. Ein beliebtes, durchaus schlüssiges Argument lautet, dass es besser keine Volksabstimmung über die Todesstrafe geben sollte, weil dabei deren von den meisten zivilisierten Ländern ausgesprochene Ächtung fallen könnte - insbesondere dann, wenn es gerade einen ekelerregenden Kindsmord gegeben hat. Selbst das Volk der Schweiz, in der die direkte Demokratie eine zentrale Rolle spielt, ist nicht davor gefeit, bedenkliche, die Menschenrechte berührende Entscheidungen zu treffen, wie etwa das Minarett-Verbot. Und auch in anderer Weise können Volksentscheidungen mit nationalen Interessen vermengt werden: In einer Reaktion auf die griechische Ankündigung des Referendums forderten CSU-Politiker umgehend Volksabstimmungen über den Euro-Rettungsschirm und den Europa-Kurs auch in Deutschland. Wie solche angesichts auch medialer Stimmungsmache gegen die "Pleite-Griechen" ausgehen würden, kann man sich vorstellen.
Allerdings ist auch die Politik keineswegs immun gegen Beeinflussungen von außen, wie laufend zu erfahren ist - sei es, indem sie auf aktuelle Meinungsumfragen schielt, sei es, dass sie dem Lobbying von mächtigen Interessengruppen nachgibt. Und schließlich scheinen die vielzitierten Märkte als ominöse, undefinierte Gruppe längst mehr Macht zu haben als die gewählten Volksvertreter.
Misstrauen gegen Eliten
Das konstatiert nicht nur Schirrmacher, das ist auch ein weit verbreitetes Gefühl in der Bevölkerung der westlichen Welt. Seit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers im September 2008 wurden vor allem die Banken für die entstandene Finanzkrise verantwortlich gemacht, und auch jetzt, wenn vor allem von einer Krise wegen der Staatsschulden die Rede ist, fragen sich viele, ob nicht die Finanzsysteme daran eine gehörige Mitschuld tragen.
Am deutlichsten manifestiert sich der Unmut derzeit in der "Occupy Wall Street"-Bewegung, die in den USA entstanden ist, aber auch in Europa auf viel Widerhall trifft, besonders bei denen, die sich ohnehin schon von Wirtschaft und Politik verraten und verkauft fühlen, etwa den "Empörten" in Spanien und Griechenland. New Yorker "Occupy"-Demonstranten erhielten gerade die ersten Gerichtsvorladungen wegen Störung der öffentlichen Ordnung. Dass ihnen die Staatsanwaltschaft einen Verzicht auf Strafverfolgung vorschlug, wenn sie sich lediglich sechs Monate lang still verhielten, wird ihr Vertrauen in ihre demokratischen Rechte nicht gerade gestärkt haben. Die meisten lehnten das Ansinnen denn auch kurzerhand ab.
Ohnehin sehen sie sich als Vertreter jener 99 Prozent, die gegenüber dem reichsten Prozent der Bevölkerung nichts zu sagen haben und von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sind. Was hier zur Kapitalismuskritik gerät, äußert sich anderswo im "Wutbürgertum" durchaus bürgerlicher Schichten, kann aber ebenso - wie in Österreich - in politikfeindliche Resignation oder der Unterstützung rechtspopulistischer Parteien münden.
Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen ein tiefer Zweifel großer Bevölkerungskreise, ob die Politik und die herrschenden Eliten noch ihre Interessen vertreten. Wie sehr dieses Misstrauen auf Gegenseitigkeit beruht, haben die panischen Reaktionen auf die Möglichkeit gezeigt, dass das Volk mitentscheiden könnte, was mit ihm passiert.