Zum Hauptinhalt springen

Die Ängste sind verpufft - auf beiden Seiten

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

2004 fürchtete der Westen um seinen Wohlstand, im Osten gab es Sorgen wegen Preissteigerungen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Brüssel. Die Polen haben ihren Standort schon längst verlagert. Vor zehn Jahren noch parkten die Kleinbusse, die Arbeitswillige aus dem Nordosten Polens nach Brüssel transportierten, in einer schmalen Gasse im Viertel St. Gilles, unweit der Straße des Goldenen Vlieses mit ihren eleganten Geschäften und Einkaufszentren. Nun sind die Fahrzeuge auf dem breiten Parkstreifen vor dem riesigen Justizpalast zu sehen.

Doch noch immer dominieren Kennzeichen aus den nordöstlichen Teilen Polens. Denn weiterhin sind dort Jobs schwieriger zu finden als im blühenden Warschau oder im ehrgeizigen Westen des Landes. So ist Siemiatycze in Brüssel zu einem Begriff geworden, sowohl für Polen als auch für Belgier, die sich mit länderübergreifenden Arbeitsphänomenen beschäftigen. Die Kleinstadt, die nur ein paar Dutzend Kilometer von der Grenze mit Weißrussland entfernt ist, steht für das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, das abseits von EU-Gesetzen seine eigenen Regeln entwickelt.

Mit den Menschen aus Siemiatycze war es ähnlich wie mit den Portugiesen, den Italienern oder den Marokkanern, die nach Brüssel kamen. Schon in den 70er Jahren verschlug es einige in die Hauptstadt Belgiens, und als sie Jobmöglichkeiten sahen, holten sie Familienmitglieder oder Bekannte nach. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich ein ganzes Netzwerk mit der entsprechenden Infrastruktur: direkten Busverbindungen sogar zwischen kleineren Orten, Informationsstellen bei Kirchen oder in den Geschäften, die den Emigranten heimische Lebensmittel und Zeitschriften verkaufen. Umgekehrt war die Nachfrage nach Arbeitskräften da: EU-Beamte suchten nach Putzfrauen und Kindermädchen; Häuserbauer benötigten Arbeiter, und immer gebraucht waren Handwerker oder Gärtner. Doch anders als die Portugiesen oder Italiener konnten etliche Polen ihre Dienste nicht legal anbieten, selbst nachdem sie EU-Mitglieder geworden waren. Wie die meisten anderen älteren EU-Staaten hatte Belgien nämlich zum Mittel der Übergangsfristen gegriffen, um seinen Arbeitsmarkt zu schützen.

Wettbewerbsfähig genug?

Damit reagierten die westeuropäischen Länder auf Sorgen von Teilen ihrer Bevölkerung. Vor der großen Erweiterung der Europäischen Union um zehn ost- und südosteuropäische Staaten vor zehn Jahren gab es Befürchtungen, die neuen EU-Bürger könnten sich zu Millionen auf Jobsuche nach Westeuropa begeben und dort zu Lohn- sowie sozialem Dumping beitragen. Und damit das Wohlstandsniveau senken. Dass bereits etliche von ihnen außerhalb ihres Landes beschäftigt waren und auch so mancher westeuropäische Haushalt von dieser Schwarzarbeit profitierte, ging in der Debatte unter.

Doch auch die Osteuropäer hatten ihre Ängste. Davor, dass alles teurer werden würde. Oder dass die heimischen Produkte auf dem europäischen Markt nicht genug wettbewerbsfähig wären. In den baltischen Staaten, die sich gut an ihren Status als Sowjetrepubliken erinnern konnten, betraf die Skepsis nicht zuletzt die Aufgabe von Souveränität: Bedeutet eine EU-Mitgliedschaft ein Diktat Brüssels? Manche Sorgen ähnelten denen früherer Beitrittsanwärter: Vor zwanzig Jahren wurden ebenfalls Fragen aufgeworfen, ob ein EU-Beitritt zum Bauernsterben beitragen werde oder die Nachbarn aus Deutschland Grundstücke an idyllischen Orten aufkaufen würden. Gestellt wurden sie in Österreich.

Banken im Glück

Doch gab es weder einen Massenansturm hier noch einen Massenaufkauf dort. Stattdessen können sich österreichische Banken und Konzerne zu ihrem Engagement in Osteuropa nur beglückwünschen, loben polnische Landwirte die EU-Förderungen, sehen Esten und Letten neben der Nato- die EU-Mitgliedschaft als Garantie dafür an, dass Russland auf Distanz gehalten werden kann. In Siemiatycze, aber auch in anderen Orten Polens, der Slowakei oder Ungarns, entstanden neue Einfamilienhaus-Siedlungen, erbaut mit dem im Ausland verdienten Geld. Und in Brüssel ist das Bild des Osteuropäers längst nicht mehr auf die Putzkraft und den Handwerker beschränkt. In den EU-Institutionen oder Denkfabriken sind sie ebenso wie ihre westeuropäischen Kollegen vertreten, sie nehmen Managementpositionen ein und werden an der Gerüchtebörse für europäische Spitzenposten gehandelt. Der vorige EU-Parlamentspräsident war ein Pole, der derzeitige EU-Erweiterungskommissar ist ein Slowake.

So ist die wirtschaftliche Bilanz der Vergrößerung der Union eine durchaus positive - und wirtschaftliche Aspekte machten einen Großteil der Überlegungen aus, aller historischen Bedeutung und der Betonung des Friedensprojekts oder des Zusammenwachsens eines zuvor auseinandergerissenen Kontinents zum Trotz. Auch wenn die ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen manchen Regionen Europas noch immer groß sind, hat West- wie Osteuropa von der Erweiterung profitiert. Allein in den vier Ländern Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn ist laut der Erste Group ein deutlicher wirtschaftlicher Aufholprozess zu sehen. So sei der Einkommensabstand um ein Drittel geschrumpft, und die inländische Kaufkraft beträgt bereits fast zwei Drittel des Durchschnitts der älteren 15 EU-Mitglieder. Schneller angestiegen als bei diesen ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf. Polen war im Jahr 2009, als alle anderen Mitglieder in der Rezession steckten, überhaupt das einzige Land in der EU, dessen Wirtschaft wuchs.

Auf Jobsuche im Ausland

- auf beiden Seiten

Dennoch sehen sich etliche Osteuropäer weiterhin zur Arbeitssuche im Ausland gezwungen. Jugendliche beklagen einen Mangel an Perspektiven, Ärzte und Lehrer geringe Löhne. An die zwei Millionen Polen haben in den vergangenen zehn Jahren ihre Heimat verlassen. Aus Rumänien, das gemeinsam mit Bulgarien 2007 der Union beigetreten ist, gingen schätzungsweise ebenso viele Menschen weg. Allerdings hat Polen fast doppelt so viele Einwohner. Die Auswanderung bleibt für die Staaten nicht ohne Folgen - auch wenn die Emigranten Geld in ihre Länder schicken. Doch in manchen Bereichen mangelt es bereits an Arbeitskräften.

In Westeuropa - zuletzt in Großbritannien und Deutschland - hat die Mobilität der Arbeitssuchenden erneut zu Diskussionen über die Immigration von Ost- und Südosteuropäern geführt. Den Fakten halten die Sorgen allerdings einmal mehr nicht Stand: EU-Bürger aus anderen Ländern zahlen nämlich mehr in die Sozialsysteme ein als sie daraus erhalten. Und ohne ihre Teilnahme am Arbeitsmarkt wäre das Wirtschaftswachstum der westeuropäischen Staaten geringer, rechnete die EU-Kommission vor.

Mittlerweile ist aber die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden Europas teilweise größer als zwischen dem Westen und dem Osten. In Griechenland und Spanien haben mehr Menschen keinen Job als in den meisten osteuropäischen Ländern. Dort wiederum war die Umsetzung von Sparprogrammen bei weitem nicht mit so viel Aufmerksamkeit verbunden wie bei den südlichen Mitgliedern. So hat sich Lettland mit rigiden Maßnahmen vom Rand des Staatsbankrotts zu erneutem Wirtschaftswachstum gestemmt. Auch Slowenien musste ein Sparpaket zusammenstellen.

Dennoch ist die EU-Begeisterung in weiten Teilen Osteuropas größer als im Westen - und das nicht nur wegen der finanziellen Unterstützung der Gemeinschaft. Die Förderungen stellen ja auch keine Almosen an ärmere Verwandte dar, sondern unter anderem eine Überbrückungshilfe, deren Folgen der gesamten EU zugute kommen. Denn eines zumindest steht außer Debatte: dass die Union ohne die neueren Mitglieder nicht vollständig wäre.