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"Jahrhundertprojekt", "Wiedervereinigung Europas", "historische Chance" - selten wurden bei einer Vergrößerung der Europäischen Union derart große Worte gebraucht wie vor der Aufnahme der jetzigen zehn EU-Beitrittskandidaten. Es ist dennoch so: Wenn am Wochenende in Kopenhagen die Verhandlungen mit den Bewerberstaaten abgeschlossen werden, nimmt der Traum vom vereinten Europa Gestalt an.
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Wenn Wolfgang Schüssel Schuhe verschenkt, dann hat das wohl seine Bedeutung. Ein Läufer weiß ob der Notwendigkeit einer guten Ausrüstung bei weiten Strecken. Gutes Rüstzeug wünschte der damalige Außenminister fünf zentral- und osteuropäischen Staaten auf ihrem "Marsch in die Union". Als erster Ratspräsident hat er Mitte 1998 auf seiner Tour de Capitales nicht nur die EU-Hauptstädte sondern auch Beitrittswerber besucht. Und dabei rot-weiß-rote Laufschuhe überreicht, die die Länder "wie Siebenmeilenstiefel in die EU tragen" sollten.
Ein halbes Jahr davor hatte der Europäische Rat von Luxemburg jene Staaten bestimmt, mit denen konkrete Beitrittsverhandlungen starten sollen: Ungarn, Polen, die Tschechische Republik, Slowenien, Estland, Zypern. Die Verhandlungen mit Malta, Rumänien, der Slowakischen Republik, Lettland, Litauen und Bulgarien wurden im Februar 2000 eröffnet. Die Skepsis war groß: Erweiterungsverhandlungen mit zwölf Ländern gleichzeitig zu führen, stieß auf Bedenken in den fünfzehn EU-Staaten.
Dass dieser Versuch unternommen werden musste, war jedoch klar. Spätestens auf dem Gipfel von Kopenhagen 1993 war die Erweiterung nicht eine Frage des "ob" sondern des "wann". Dabei wurde nämlich festgelegt, dass "die Länder Mittel- und Osteuropas, die dies wünschen, Mitglieder der Europäischen Union werden können". Ebenso wurden die Bedingungen dafür genannt (siehe unten). Das heuer veröffentlichte Strategiepapier der Europäischen Kommission bescheinigt allen Ländern - mit Ausnahme Rumäniens und Bulgariens, die bei der jetzigen Erweiterungsrunde nicht dabei sind - die Fähigkeit, bis zum Beitritt die Kriterien erfüllen zu können.
"Wir haben den Ländern Osteuropas ein Angebot gemacht, zu dem wir stehen müssen", kommentierte Marianne Kager, Chefökonomin der Bank Austria Creditanstalt. "Und in den letzten zehn Jahren haben diese Länder enorme Anstrengungen unternommen, die Bedingungen zu erfüllen", meinte sie bereits vor einem halben Jahr. Eine aktuelle BA-CA-Studie bestätigt: In den letzten fünf Jahren waren die Beitrittsländer Osteuropas die erfolgreichsten der Welt. Sie konnten ihr Einkommen pro EinwohnerIn mit 56% gemessen in Euro deutlich stärker steigern als andere Regionen.
Als wirtschaftliche Gefahr für die jetzigen EU 15 sei Osteuropa dennoch nicht zu betrachten. Dafür sei der BIP-Anteil von 4,5% an der neuen EU 25-Wirtschaftskraft zu gering.
Mehr Ängste verursachen da die rund 80 Millionen Menschen mehr, die zu EU-Bürger-Innen werden. Phobien vor einer Überschwemmung des Arbeitsmarktes mit billigen Kräften aus dem Osten werden von populistischen PolitikerInnen zusätzlich geschürt. Laut Umfragen in den Kandidatenstaaten bewegt sich die deklarierte Bereitschaft, das Land zu verlassen, aber höchstens im einstelligen Prozentbereich - und auch das ist Theorie.
"Die österreichischen Köche fahren auch in die Schweiz"
Meiner Frage, ob er gern "im Westen" arbeiten würde, begegnete ein leitender Hotelangestellter in Prag mit Erstaunen. "Nein, warum?", antwortete der Mann, der seit 13 Jahren in dem Haus arbeitet. Um eine weitere Meinung einzuholen, winkte er den Chefkoch herbei: "Würdest du nach Österreich gehen?" Mit Verwunderung nahm er die bejahende Antwort zur Kenntnis. "Die österreichischen Köche fahren ja auch in die Schweiz, um mehr Geld zu verdienen", gab der Koch zu bedenken. Und fügte hinzu: "Ich habe eine große Familie. Wahrscheinlich würde ich doch nicht wegziehen."
Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte war bereits vor der Erweiterung der Union um Spanien und Portugal ein Thema. Nach dem Beitritt sind jedoch die Übergangsfristen vorzeitig aufgehoben werden - auf Betreiben deutscher InvestorInnen. Die Angst vor einem Ausverkauf von Grund und Boden, wie sie etwa in Polen anzutreffen war, grassierte auch in Teilen Österreichs vor acht Jahren. Doch es zeigte sich, dass nicht das ganze Land in deutsche Hände fiel.
"In Wahrheit hat Europa nur eine Chance, wenn es kontinental auftritt", meint Erhard Busek, Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa. Die Möglichkeit, Europa zu einen, sei nun greifbar. Denn die Länder, die sich noch vor zwanzig Jahren als Mitglieder feindlicher Machtblöcke misstrauisch beäugten, finden nun zusammen.
"Zwischen 1948 und 1989 war der Kontinent geprägt von seiner Teilung", stellt Busek fest. "Als der Eiserne Vorhang gefallen war, stellte sich die Frage: Wie gehen wir damit um?" Das Konzept, "einen Raum der Stabilität und des Wohlstandes auf neue Mitglieder auszudehnen", setzte sich durch.
Daher ist die bevorstehende Erweiterung weit mehr als ein rein wirtschaftliches Projekt. "Für Dissidenten, die nach 1989 sich endlich frei bewegen konnten, war es eine Rückkehr nach Europa", erzählt Busek. Tschechische und slowakische BürgerInnen hätten die Museen in Wien gestürmt. An manchen Tagen habe er den Eintritt freigegeben, erinnert sich der ehemalige Wissenschaftsminister. "Da hat man die Bilder nicht gesehen vor lauter Menschen."
Buseks Putzfrau steht einer EU-Erweiterung übrigens skeptisch gegenüber. Die gebürtige Polin mit österreichischer Staatsbürgerschaft sei der Meinung: Hauptsache, ich bin drinnen, und die anderen sollen draußen bleiben. Nach Buseks Interpretation unterscheidet sie sich darin kaum von vielen ihrer jetzigen Landsleute. Etliche ÖsterreicherInnen hätten eine ähnliche Einstellung.