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Die Anliegen und Ängste der Wähler der Rechten ernst nehmen

Von Robert Schediwy

Gastkommentare

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Franz Grillparzer, heute längst als verstaubter Klassiker abgestempelt, prägte 1849 das Wort: "Der Weg der neuern Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität." (Aus: Franz Grillparzer: "Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte", Herausgeber: Peter Frank und Karl Pörnbacher, München 1960).

Wie kam er zu diesem bemerkenswerten Satz? Grillparzer, vor 1848 durchaus ein Kritiker des vormärzlichen Absolutismus, wurde geprägt vom Erlebnis des effektiven Zerfalls der Donaumonarchie, der nur durch ausländische Intervention, nämlich durch die "Brüderliche Hilfe" des Zaren, um weitere 70 Jahre hinausgeschoben wurde. Der Dichter erkannte, dass der die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmende Gedanke der Nationalität durch die Konkurrenz und das Gegeneinander der nationalen Ansprüche zu einer explosiven Lage führen musste.

Der "Völkerfrühling" von 1848 und 1849 brachte nicht bloß die Machtergreifung eines kleinen Napoleon in Frankreich und die beinahe geglückte Emanzipation Groß-Ungarns aus dem Verband des Habsburger-Reichs, sondern auch eine lange dauernde Belagerung der Stadt Venedig durch österreichische Truppen. Die allerorts aufkeimenden militanten Nationalismen ließen die Bestialität künftiger nationaler Auseinandersetzungen schon erahnen. Grillparzer, ein "Bewahrer", schrieb ein patriotisches Gedicht auf den greisen österreichischen Truppenführer Josef Wenzel Radetzky von Radetz und wurde zum hochgeehrten Staatsdichter des langsam untergehenden alten Österreich. Das soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Es erscheint aber sinnvoll, sich mit seinem ebenso kurzen wie wie düsteren Wort näher zu befassen.

Nicht zuletzt dank Eisenbahn- und Dampfschifffahrtswesen war das 19. Jahrhundert eine Epoche enormer Mobilität. Hunderttausende, ja Millionen wanderten aus dem übervölkerten Europa aus, vornehmlich in die USA, nach Lateinamerika, Kanada, und Australien. Auch die Binnenwanderung war enorm und führte zu großen kulturellen Spannungen.

Konflikte um Sprachgrenzen

Die Städte Ost-Mitteleuropas, die zuvor relativ klein waren und häufig Sprachinseln bildeten, änderten durch Zuzug vom Land ihren sprachlich-kulturellen Charakter: Aus Prag wurde eine tschechische Stadt, aus Budapest eine ungarisch-sprachige. Vor allem die Konflikte um die slawisch-deutschen Sprachgrenzen wurden zwar ohne Waffen, aber doch mit einiger Erbitterung ausgetragen, von der Ostsee bis zur Südsteiermark. Und die jüdische Minderheit, die sich besonders erfolgreich den wirtschaftlichen Herausforderungen der industriellen Revolution gestellt hatte, erntete als Begleiterscheinung ihres Erfolges ein Maximum an Hass und Neid.

Was im 19. Jahrhundert die extreme Mobilität großer Menschengruppen an Konflikten vorbereitet hatte, bildete einen guten Teil des explosiven Potenzials im 20. Jahrhundert, vom ideologischen Geifern des Panslawismus und Pangermanismus bis zu den antisemitischen Wahnideen, die die deutsche Niederlage von 1918 für manche verwirrte Geister "verständlich machten". Die Existenz größerer neuer Minoritäten lieferte paranoide Erklärungsmuster und bot passende Sündenböcke. Im Endeffekt ließe sich leicht überspitzt sagen: Die Massaker des 20. Jahrhunderts gehen auf die Migrationswellen des 19. Jahrhunderts zurück.

Populismus als Schimpfbegriff

Man könnte auch auf die Völkerwanderung zurückgreifen. Angesichts der historischen Erfahrungen betreffend die Destabilisierungswirkung großer, unkontrollierter Wanderungsbewegungen erscheint es irgendwie erstaunlich, welchen hohen Stellenwert die Niederlassungsfreiheit im Rahmen der wirtschaftsliberalen Doktrinen der EU immer noch einnimmt. Die Warnsignale aus der Bevölkerung werden immer noch weitgehend ignoriert, das Wort Populismus regelmäßig und undifferenziert als Schimpfbegriff missbraucht (nur einzelne Politiker wie Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer bilden da eine Ausnahme). Anstatt darüber nachzudenken, wie man den Siegeslauf der politischen Rechten durch ein Ernstnehmen der Anliegen und Ängste ihrer Wähler den Wind aus den Segeln nimmt, wird über deren psychische Gestimmtheit spekuliert. Wer dagegen Bedenken anmeldet, wird mit dem alten, dummen Spruch belegt, die Leute gingen doch lieber zum Schmied als zum Schmiedl, und man möge es unterlassen, Argumente zu verwenden, die von der politischen Rechten kommen.

Unsere Aufgabe ist allerdings, nicht Argumente nach ihrer Herkunft zu kategorisieren, sondern danach, ob sie zutreffen oder nicht - unabhängig davon, ob sie auch von Leuten verwendet werden, die uns politisch mehr oder weniger sympathisch sind. Wir haben jedenfalls heute die Weichen so zu stellen, dass die Migrationswellen unseres Jahrhunderts nicht die Massaker des nächsten Jahrhunderts stimulieren werden.

Zum Autor

Robert
Schediwy

ist Sozialwissenschafter und Kulturpublizist.