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"Ermutigung für alle, die an Europas Einigungswerk geglaubt haben."
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"Wiener Zeitung": Als Zyniker könnte man fragen, welchen anderen Preis hätte die EU bekommen sollen? Für den Wirtschaftsnobelpreis ist sie ja derzeit eher kein Kandidat.Martin Schulz: Da bin ich anderer Meinung. Es ist eine hohe Auszeichnung, dass wir den Friedensnobelpreis bekommen haben, eine Ermutigung für alle, die an das europäische Einigungswerk als Lösung angesichts der Probleme des 21. Jahrhunderts geglaubt haben.
Offensichtlich braucht es aber die Auszeichnung durch eine Institution außerhalb der EU, nämlich das norwegische Nobelpreiskomitee, dass sich Europa wieder seiner eigenen großen Leistung bewusst wird und neues Selbstbewusstsein entwickelt. Ist das nicht fast ein wenig peinlich?
Das ist keine Frage, die Sie an einen Europapolitiker richten können, damit müssen Sie sich schon an die Regierungen der Mitgliedsstaaten wenden, die ja immerzu erklären, dass sie die Macht in Händen halten. Wenn Sie Ihre Frage so gemeint haben, haben Sie recht. Tatsächlich haben die Staats- und Regierungschefs einen Beitrag zur Stagnation Europas geleistet. Und deshalb hat das Komitee auch nicht die Regierungschefs ausgezeichnet, sondern die Gemeinschaftsinstitutionen der Europäischen Union. Diese sind es auch, die die Union voranbringen. Jeder einzelne Erfolg im Kampf gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise ging von den EU-Institutionen aus, nicht von den Staaten.
War die Entscheidung, die EU auszuzeichnen, wirklich eine mutige, wie nun manche behaupten? Sieht man von einzelnen Stimmen vom ganz linken und rechten Rand des politischen Spektrums ab, scheinen irgendwie alle zufrieden und glücklich. Scheint, als hätte man "Everybody’s Darling" ausgezeichnet.
Für mich ist die Entscheidung des Komitees sehr wohl mutig, weil nicht eine einzelne Person, sondern eine Institution ausgezeichnet wurde. Also muss man dieser Institution besondere Qualitäten zuweisen, die man bei Personen so nicht leicht findet. Das ist kein alltäglicher Vorgang und allein deshalb schon mutig. Und die Qualitäten, die der EU zugewiesen wurden, lauten: Moralische Integrität, Friedenswille, Gerechtigkeit sowie Solidarität nach innen wie nach außen - das ehrt uns natürlich.
Noch mutiger wäre es gewesen, einen konkreten Weg für Europa auszuzeichnen. Die Krise hat die Union an eine Weggabelung geführt, die längst nicht entschieden ist. Man hätte ja zum Beispiel Jacques Delors, den ehemaligen Kommissionschef, auszeichnen können, der für ein ganz konkretes Europa steht.
So können von einem Repräsentanten der Union jetzt nicht erwarten, dass er an der Entscheidung des Nobelpreiskomitees herummäkelt - das werde ich auch nicht tun.
Worin liegt für Sie der zentrale Erfolg der EU, der die Verleihung des Friedensnobelpreises rechtfertigt?
Die Union hat, ganz grundlegend betrachtet, den Charakter einer historischen Antwort der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dessen erste Hälfte. Da stehen auf der einen Seite 60 Millionen Tote, Auschwitz, Faschismus, Bolschewismus, Gulags sowie die völlige Entwertung aller aller materiellen und moralischen Werte und auf der anderen Seite die friedliche Zusammenarbeit der Völker auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und Vertrauens. Das hat in Europa eine Friedensperiode hervorgebracht, die historisch einzigartig ist. Auch dieser Wille zur Verständigung, zur Einheit in Vielfalt, ist jetzt ausgezeichnet worden.
Kritiker malen die Gegenwart der EU in etwas düsteren Farben und prangern das Streben der Union an, sich insbesondere gegenüber den ärmsten Regionen hermetisch abzuriegeln, etwa durch ein rigoroses Grenzschutzsystem, das eine erschreckend hohe Opferzahl an im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen zulässt.
Das beste Rezept gegen Armut ist nicht das Errichten von möglichst hohen Mauern, sondern die Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müssen eine aktivierende Entwicklungspolitik betreiben, etwa indem wir die Länder des Arabischen Frühlings so begleiten, dass diese sich wirtschaftlich, nicht zuletzt vor allem landwirtschaftlich so entwickeln können, dass auch sie einen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers in noch ärmeren benachbarten Regionen leisten können. Im Mittelmeer haben wir es mit einer massiven Armutsmigration zu tun. Diese wird man mit noch so hohen Mauern alleine nicht bewältigen können, dazu braucht es Hilfe in den Regionen selbst. Dass die EU dazu als Soft Power, als deklariert nicht-militärische Supermacht in der Lage ist, haben wir bewiesen.
Wer wird den Preis für die EU entgegennehmen?
Ich gehe davon aus, dass es die drei Präsidenten der Gemeinschaftsinstitutionen sein werden, also Herman Van Rompuy, Jose Manuel Barroso und ich.