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Das hätte in dieser Klarheit niemand erwartet, aber nun liegt es auch laut vorläufigem amtlichen Endergebnis vor: In Deutschland ist Sonntag die Ära Kohl zu Ende gegangen. Die SPD hat die
Bundestagswahl überraschend klar gewonnen und wird mit Gerhard Schröder den neuen Bundeskanzler stellen. Die CDU erlitt mit 35,1 Prozent (41,5 Prozent) · dem schlechtesten Ergebnis seit 1949 · eine
erdrutschartige schwere Niederlage. Grüne und FDP werden leicht geschwächt in den neuen Bundestag einziehen. Die eigentliche Überraschung: Außer der SPD legte nur die PDS zu, übersprang mit
5,1 Prozent (4,4 Prozent) erstmalig und 5 Prozent-Hürde und errang in Berlin vier Direktmandate. Sie erhält damit den Fraktionsstatus, was ihr mehr Arbeitsmöglichkeiten und finanzielle Mittel für
eine wissenschaftliche Stiftung einbringt. Den rechtsextremen Parteien wurde eine überraschende Abfuhr erteilt.
Wahlentscheidend war das Stimmverhalten im Osten: Hier wurde so heftig für die Abwahl des "Kanzlers der Einheit" gestimmt, daß es auf den Bundesschnitt schlug. Die Wahlbeteiligung lag mit
82,3 Prozent um 3,3 Prozent höher als 1994.
Damit ist erstmals seit Bestehen der BRD ein amtierender Bundeskanzler abgewählt worden. Erstmals wird ein Kanzler das Land von Berlin aus regieren. Erstmals besteht die Chance für eine rot-grüne
Bundesregierung mit SPD und Bündnis 90/Grüne. Ein rot-grünes Bündnis könnte sich im Bundestag auf eine deutliche Mehrheit von 23 Mandaten stützen.
SPD-Vorsitzender Lafontaine bezeichnete den "historischen Sieg" als "Beginn einer neuen Epoche", Gerhard Schröder kündigte an, er wolle "nach der staatlichen Einheit die innere Einheit herstellen".
Nach der Bildung einer "stabilen Regierung" sei das wichtigste Ziel, "den Kampf gegen die Geißel Massenarbeitslosigkeit" zu führen. Deshalb werde er zu einem neuen Bündnis für Arbeit einladen.
Entscheidend seien "ökonomische Stabilität, innere Sicherheit und außenpolitische Verläßlichkeit". Schröder vermied es anfangs, sich auf eine Koalition festzulegen. Er schloß lediglich eine Koalition
mit der PDS aus. PDS-Gruppenchef Gregor Gysi will eine rot-grüne Regierung mit linker Oppositionspolitik unter Druck setzen. Sie werde die SPD an ihre Wahlversprechen erinnern. Sollte es bei der
Kanzlerwahl aber knapp werden, stehe seine Partei einer neuen Politik nicht im Wege.
Von den Spitzen der CDU und CSU gibt es klare Absagen an eine große Koalition. Die Grünen steuern ein rot-grünes Bündnis an, denn eine große Koalition wäre Betrug an den Wählern, die einen
Politikwechsel wollten. Deshalb solle die SPD auf Gespräche mit der Union und der FDP verzichten. Bei neuesten Umfragen wurden überwiegend Stimmen laut, daß die SPD im Falle einer Wählertäuschung
politisch erledigt wäre.
Der SPD-Vorstand beschloß, Freitag zu ersten Gesprächen mit den Grünen zusammenzukommen. Auch die Führungsgremien von Grünen, CDU und FDP zogen erste Schlußfolgerungen. Helmut Kohl wird als CDU-
Vorsitzender nicht noch einmal zur Verfügung stehen. Schäuble gilt als sein Nachfolger.