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Hanoi - Als vor 25 Jahren die letzten US-Soldaten Vietnam verließen, waren die Geschwister Thuy und Thung noch nicht geboren. Doch die Hinterlassenschaft der US-Armee, die Verseuchung Vietnams mit Chemikalien, hat das Leben der Kinder verwirkt. Die fast 25-jährige Nguyen Thi Phuong Thuy kam mit schweren Hirnschäden zur Welt. Sie wiegt gerade 10 kg, ist bettlägrig und nimmt die Welt um sich herum nicht wahr.
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Ihr vier Jahre jüngerer Bruder Nguyen Than Tung wurde scheinbar gesund geboren. Doch nach drei Jahren ließ sein Sehvermögen nach, mit neun Jahren war er blind. Diagnose: Dioxinvergiftung. Der Vater der Kinder, Nguyen Thanh Son, kämpfte im Krieg sechs Jahre lang für die nordvietnamesische Armee in der damaligen entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südvietnam, die von der US-Armee massiv mit Entlaubungsmitteln überzogen wurde.
Am 30. April 1975 evakuierte die US-Marineinfanterie die restlichen in Vietnam verbliebenen US-Bürger mit Hubschraubern vom Dach der US-Vertretung in Saigon. Einen Tag später kapitulierte Südvietnam. Während des Krieges kamen drei Millionen Vietnamesen ums Leben, zwei Millionen davon waren Zivilisten. Die US-Armee hat bei ihrem Einsatz rund 60.000 Soldaten verloren. Und noch heute, 25 Jahre später, kämpfen beide Seiten mit den Spätfolgen.
In den USA belegen Studien ein erhöhtes Krebsrisiko der Kriegsveteranen. Soldatinnen, die in Vietnam kämpften, weisen eine erhöhte Krebsrate auf, sie entwickeln häufiger Multiple Sklerose und Tuberkulose und tragen ein höheres Risiko an Fehl- und Totgeburten. Am ehemaligen Kriegsschauplatz Vietnam kommt zu den Spätfolgen von C-Waffen die Gefahr durch Blindgänger hinzu. Die genaue Zahl der Opfer kennt niemand. Mindestens 22.000 Menschen seien seit dem Kriegsende durch Restmunition getötet worden, so ein Beamter aus dem vietnamesischen Arbeits- und Sozialministerium. Die Verletzten-Zahl liege wohl ähnlich hoch, und meistens seien Kinder betroffen. Die in den Boden eingegrabenen Minen und nicht gezündeten Bomben explodieren mit einer Regelmäßigkeit, dass die Medien über viele Vorgänge schon gar nicht mehr berichten.
Auch die Zahl der Opfer von Giften wie Dioxin und dem Entlaubungsmittel Agent Orange sind noch nicht vollständig erfasst. 72 Millionen Liter Chemikalien hat die US-Armee von 1962 bis 1971 über den vietnamesischen Wäldern abgeworfen. "Die Folgen der von den Amerikanern eingesetzten Chemikalien sind immer noch schwerwiegend, und sie werden bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts hinein reichen," schätzt Professor Hoang Dinh Cau. Der Wissenschaftler führt in Vietnam Langzeitstudien durch, die untersuchen, wie sich das im Krieg eingesetzte Gift auf Menschen und Natur auswirkt. "Von 1000 Einwohnern hat Agent Orange ein Opfer gefordert, und viele sind bereits gestorben," sagt Hoang Dinh Cau.
In den Gebieten, über denen die größten Mengen an Agent Orange ausgeschüttet wurden - der Region Quang Tri, die neben der ehemals entmilitarisierten Zone liegt, und entlang der Grenze zu Laos und Kambodscha - häufen sich die Fälle von Krebs, Fehl- und Missgeburten. Allein in der Provinz Quang Tri leiden 15.000 Menschen an den Spätfolgen von Agent Orange, wie eine landesweite, noch nicht abgeschlossene Studie herausgefunden hat. Rund 2000 von ihnen sind bereits gestorben. Im ganzen Land seien Hunderttausende durch die Verseuchung der Nahrungskette betroffen, schätzt Hoang Dinh Cau. Von den etwa 42 Millionen Kindern, die seit dem Kriegsende geboren worden sind, sind 76.000 mit Missbildungen zur Welt gekommen.
Im Februar haben die vietnamesischen Behörden den Opfern chemischer Produkte erstmals finanzielle Unterstützung zugesagt. Diese Hilfe hätten Familienväter wie Nguyen Thanh Son bitter nötig. "Mein Leben ist so gut wie vorbei," sagt der 52-jährige, der zunehmend unter gesundheitlichen Problemen leidet. "Aber ich kämpfe ums Überleben, um meine Kinder durchzubringen, die wegen ihrer Behinderungen von mir abhängig sind."