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"Die Asylquote ist kein Allheilmittel"

Von Siobhán Geets

Politik
ÖGAVN

EU-Experte Stefan Lehne über Europas Krisen, mögliche Lösungen und die Frage, ob es die EU in 30 Jahren noch geben wird.


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"Wiener Zeitung": Wir brauchen mehr Europa, mehr Union in unserer Europäischen Union, sagte Jean-Claude Juncker vergangene Woche. Was haben wir falsch gemacht?

Stefan Lehne: Juncker hat in dieser Diagnose vollkommen recht. Dieses große Problem hat viele Ursachen, sie liegen unter anderem im Zusammenhalt der Mitgliedstaaten. Er war von Anfang an bedingt und stand immer damit in Verbindung, wie nützlich er gerade für den jeweiligen Staat ist.

Der europäische Zusammenhalt scheint momentan besonders schwach. Wo liegen die Ursachen dafür?

Wir sind eine Reihe von Turbulenzen durchgegangen: Die Finanzkrise hat die Solidarität unter den Mitgliedstaaten geschwächt, es gibt neue Trennlinien zwischen Nord und Süd, zwischen Gläubigern und Schuldnern, zwischen den Eurozonen-Staaten und jenen, die nicht dabei sind. Jetzt kommt durch die Flüchtlingskrise eine zusätzliche Herausforderung. Da regen sich in der Bevölkerung, teilweise auch bei den Regierungen, die nationalstaatlichen Instinkte. Die Bereitschaft zu europäischer Solidarität ist geschwächt. Das gilt für die Außenpolitik noch mehr, denn hier war sie nie besonders stark. Die Nationalstaaten haben ihre Linie parallel zur europäischen Außenpolitik immer beibehalten. Hier manifestiert sich, dass es zu wenig Geschlossenheit gibt.

Zu dem von Ihnen angesprochenen Nord-Süd-Gefälle kommt jetzt noch jenes zwischen Ost und West dazu. Beim dünnen Ergebnis des EU-Innenministertreffens am Montag fragt man sich schon: Ist das jetzt alles?

Das ist zweifellos nicht alles, sondern der Anfang einer Reihe von Sitzungen zu diesem Thema. Die Innenminister werden sich kommende Woche wieder treffen, es ist die Rede von einem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Die osteuropäischen Staaten haben bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine ganz andere Ausgangsposition. Durch den Wandel der Geschichte sind sie viel homogener, als wir das von Westeuropa kennen. Sie waren immer abgeschottet. Die Vorstellung, dass jetzt viele Menschen aus dem Süden kommen, ist für diese Staaten traumatischer als etwa für Frankreich oder Belgien, die mit diesem Zustand seit Jahrzehnten leben. Es wird aber nichts nutzen, man kann hier nur vorwärts kommen, wenn man europäische Solidarität erreicht.

Juncker schlägt eine verbindliche Quote vor...

Die Geschichte mit den Quoten ist für mich nicht die beste Lösung. Aber ohne eine gemeinsame europäische Politik ist Schengen verloren, so viel ist klar.

Halten Sie es für eine gute Idee, die Visegrád-Staaten im Sinne einer Asyl-Quote im Ministerrat einfach zu überstimmen?

Nein, und das ist auch der Grund, warum es beim letzten Ministerrat nicht zu einer Entscheidung gekommen ist. Eine derartig sensible Frage mit einer Mehrheitsentscheidung durchzubringen ist äußerst problematisch. Die Frage ist außerdem, ob sie dann in den Mitgliedstaaten gegen den Widerstand der Regierungen und der Bevölkerung durchgesetzt wird. Deshalb muss man alles unternehmen, um doch noch zu einer einvernehmlichen Einigung zu kommen.

Die Chancen für eine verpflichtende Quote stehen also schlecht...

Das ist ein schrittweiser Prozess. Die gemeinsame Quote bildet den harten Kern, aber es gibt noch andere Dimensionen: Die gemeinsame Liste der sicheren Drittstaaten, stärke Maßnahmen, um die Außengrenzen zu sichern, und die Einrichtung von Hotspots. Auch die Unterstützung der Flüchtlingslager im Nahen Osten spielt eine Rolle. Es gibt eine Menge von Elementen, die Quote ist aber zum Symbol geworden für das Scheitern oder Gelingen. Man kann ja die 2000 Flüchtlinge, die dann in Estland landen, nicht daran hindern, in den Zug zu steigen und nach Berlin zu fahren. Wenn Schengen aufrecht bleibt, ist das burden-sharing durch die Quote nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss.

Aktuell droht Europa an der Flüchtlingskrise zu zerbrechen. Welche Alternativen sehen Sie, doch noch zu einer europäischen Lösung zu kommen?

Juncker hat ja auch einen finanziellen Ausgleich vorgeschlagen - jene Mitgliedstaaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssen zahlen. Das wäre ein nützliches Element. Die anderen Elemente einer Harmonisierung der Asylpolitik, etwa eine Angleichung der Bedingungen im Umgang mit Flüchtlingen in der EU, sind sehr wichtig. Derzeit ist ein "Asylshopping" zu beobachten: Die Flüchtlinge gehen dorthin, wo sie die besten Bedingungen vorfinden. Wenn die überall ähnlich sind, gibt es auch nicht mehr so eine große Konzentration auf bestimmte Staaten. Wir sollten die Quote also nicht zum Allheilmittel machen, denn es gibt viele Elemente in diesem Prozess, der sicher noch Wochen und Monate dauern wird.

Wann könnte es zu einer Lösung kommen?

Das kann ich nicht einschätzen. Was sich in den vergangenen Monaten geändert hat, ist, dass es heute einen starken Führungsanspruch der großen und wichtigen Staaten gibt. François Hollande, Angela Merkel, Matteo Renzi - sie sind sich mehr oder weniger einig über die verschiedenen Elemente in diesem Prozess. Das ist besser als vor dem Sommer, denn da gab es noch einen großen Dissens unter jenen Ländern, die am meisten betroffen sind und die in dieser Frage gewichtige Stimmen haben.

Wirtschaftskrise, Griechenland, jetzt die Asyldebatte: Europa steckt in der Dauerkrise. Was können wir auf politischer Ebene tun, um die Union zu retten?

Seit dem Anfang der EU gab es Krisen, das liegt in der Natur der Sache. Viele Experten behaupten, dass die EU sich nur durch Krisen weiterentwickeln kann. Die Krise ist auch eine Chance auf dem Weg zu gemeinsamen Lösungen. Momentan haben wir eine Bündelung von Problemen: Brexit, die Ukrainekrise, die politischen Herausforderungen im Süden, die Asylkrise und das ungelöste Europroblem. Ich glaube nicht, dass jemand einen Zauberstab hat, mit dem er ein Lösungskonzept für alles herzaubern kann. Jede dieser Baustellen muss individuell angegangen werden. Die Vorstellung mancher, dass man nur einen neuen EU-Vertrag schreiben muss, der föderalistischer angelegt ist und dadurch eine handlungsfähigere Union zusammenbringt, das ist kurzfristig nicht zu erreichen.

Was steht der Etablierung einer echten Union im Weg?

Die Haltung, dass die verschiedenen Krisen mehr Europa brauchen und mehr Union, wie Juncker das formuliert, steht im Gegensatz zu den Befindlichkeiten der Bevölkerung. Sie wird immer skeptischer. Die alten Mainstream-Parteien verlieren, neue populistische Parteien kommen hervor. Die Menschen sehnen sich nach der Sicherheit des alten Nationalstaats. Das ist eine Illusion, denn das wird es nicht geben. Die Globalisierung ist zwar nicht zu stoppen und auch nicht zurückzunehmen, aber diese Haltung macht es so schwierig, eine große Reform in der EU einzuleiten. Darüber kann und sollte man nachdenken, aber kurzfristig ist da wenig zu machen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als jedes Problem gesondert zu behandeln und zu versuchen, die besten Lösungen zu erzielen. Durch politische Führung sollte man dafür sorgen, dass der Zusammenhalt gewahrt bleibt.

Letzten Endes braucht es aber schon eine europäische Regierung?

Absolut. Was sich durch die internen und externen Herausforderungen manifestiert ist, dass alles nach stärkeren europäischen Lösungen schreit. Politisch ist das vorläufig aber sehr schwer umzusetzen. Es ist eine mittel- oder langfristige Lösung.

Die EU in 30 Jahren: Wird sie zu einer echten Union, also einer Staatengemeinschaft gewachsen oder auf einen Freihandelsraum geschrumpft sein?

Die Gefahren letzterer Option sind im Augenblick durchaus gegeben. Es gibt Zentrifugalkräfte, welche die Staaten auseinandertreiben. Es ist nicht auszuschließen, dass wichtige Errungenschaften des Integrationsprozesses wieder verlorengehen. Schengen ist im Augenblick wirklich an der Kippe. Der Integrationsprozess ist nicht irreversibel, es sind echte Gefahren vorhanden. Auf der anderen Seite ist klar, dass wir nicht ins 19. Jahrhundert zurückkommen.

Die EU-Skeptiker würden sagen: Zurück zu den Nationalstaaten.

Auf sich allein gestellte Nationalstaaten können keines dieser Probleme auch nur irgendwie lösen. Die Populisten, die Nein zu Europa sagen, übersehen völlig, dass es kein Alternativkonzept gibt. Aus dieser schieren Notwendigkeit, Probleme gemeinsam zu lösen, leite ich einen begrenzten Optimismus ab, dass es doch in die richtige Richtung weitergehen wird. Ich bin beunruhigt, aber ich glaube, dass es keine Alternative zur EU gibt. Die Rückkehr zu den Nationalstaaten wäre ein ungeheurer wirtschaftlicher Rückschlag und mit riesigen sozialen Problemen verbunden.

Österreich hat diese Woche wieder Grenzkontrollen eingeführt. Kann das zur Lösung beitragen?

Es ist in den Schengen-Regelungen vorgesehen, dass Staaten in Notsituationen Personenkontrollen einführen dürfen. Das ist also systemkonform, man muss es nur der Europäischen Kommission mitteilen. Die sagt auch, dass der Grund dafür momentan gegeben ist. Die Frage ist nur, wie lange. Auf Dauer ist das sicher nicht akzeptabel und auch nicht im Einklang mit den Regelungen. Zudem kommt es dann zu einer Kettenreaktion, die man ja jetzt schon beobachten kann: Ein Schritt führt zum nächsten, es kommt zu einer zunehmenden Abschottung. Das ist nur tolerierbar, wenn man gleichzeitig an gemeinsamen Lösungen arbeitet, die dazu führen, dass die Maßnahmen wieder zurückgenommen werden.

Ungarn erwägt nun einen Zaun zu bauen an der Grenze zu Rumänien, also einem anderen Mitgliedstaat.

Ob das rechtlich möglich ist, kann ich nicht sagen, es ist aber denkbar, dass dieser Zaun nicht illegal ist. Er ist aber ganz sicher kein Beitrag zu einer Lösung.

Stefan Lehne ist Visiting Scholar beim Brüsseler Thinktank "Carnegie Europe", wo er sich mit den Entwicklungen der EU-Außenpolitik seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags 2009 befasst. Von 2009-2011 war Lehne politischer Direktor im österreichischen Außenministerium.