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Ein unkonventioneller Grenzgänger zwischen Philosophie, Literatur und Hollywoodfilmen: Ein Nachruf auf den amerikanischen Philosophen Stanley Cavell.
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"Philosophen nach meinem Herzen werden versuchen, den Gedanken verständlich zu machen, dass es, selbst wenn sie solche Antworten nicht erhalten können, es dennoch Arten des Denkens gibt, die es wert sind, dass wir unsere Lebenszeit darauf verwenden, sie zu entdecken".
In diesem Satz drückt sich die Quintessenz des Denkens des US-amerikanischen Philosophen Stanley Cavell aus. Er lehnte das tranzendentale Wolkenkuckucksheim der Metaphysik ab. Ihm ging es um die Rehabilitierung des Gewöhnlichen; Für ihn sollte Philosophie mit dem menschlichen Leben und seiner Kultur zu tun haben, wobei er keinen Unterschied zwischen Hoch- und Populärkultur machte. Cavells Philosophie, die er wie ein Jazzmusiker komponierte, war unkonventionell. Er ging von einigen Leitmotiven aus, die er variierte und durch Improvisationen anreicherte.
Der Querdenker kümmerte sich zeit seines Lebens wenig um die herrschenden akademischen Klassifizierungen und Disziplinen. Cavell errichtete ein Denkgebäude, das aus unterschiedlichen Bauteilen zusammengefügt ist: Er befasste er sich eingehend mit der Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein, schrieb über die Bedeutung des Skeptizismus und studierte eingehend die amerikanische Philosophie von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Cavell praktizierte "die Doppelgleisigkeit des philosophischen und literarischen Schreibens" und bezog sich in seinen Essays häufig auf literarische Werke - von den Tragödien Shakespeares über die Erzählungen von Edgar Allan Poe bis zu den Theaterstücken von Samuel Beckett.
Als JugendlicherJazzmusiker in Bars
Als einer von wenigen Philosophen des 20. Jahrhunderts richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Bereich des Films, speziell auf Hollywood. Seine Lieblingsfilme waren jene amerikanischen "screwball comedies", in denen die Wiederverheiratung desselben Paares im Mittelpunkt steht.

Die Biografie von Cavell ist ungewöhnlich: Er wurde am 1. September 1926 in Atlanta als Sohn einer aus Polen stammenden jüdischen Einwandererfamilie geboren. Als Jugendlicher schlug er die Laufbahn eines Musikers ein. Den Lebensunterhalt verdiente er als Jazzmusiker, der in Bars spielte. Danach absolvierte er ein Studium der Musik und Literatur in Berkeley und New York. Während des Studiums verkehrte er in avantgardistischen Künstlerkreisen. Darauf folgte ein Studium der Psychoanalyse, das er bald abbrach.
Von der Havard-University erhielt Cavell ein Stipendium, das er für ein Studium der Philosophie bei dem damals renommierten Sprachphilosophen John Austin nützte. Nach dem Abschluss der Studien war er als Professor für Philosophie in Berkely, am Institute for Advanced Study in Princeton und an der Harvard University tätig. In einem Gespräch mit dem Autor schilderte Cavell die Umstände seiner philosophischen Laufbahn: "Als ich Philosophie zu studieren begann, regierte der Logische Positivismus. Jede avantgardistische Richtung der Philosophie war damals positivistisch. Dann kam die Erneuerung durch die Philosophie der gewöhnlichen Sprache in den 50er Jahren, die ich bei meinem Lehrer John Austin kennenlernte. Diese philosophische Richtung, die von der Alltagssprache ausging, wurde bald von einer ähnlichen, aber nicht identischen Philosophie ersetzt. Ich meine damit die Spätphilosophie von Ludwig Wittgenstein, die eine geteilte Aufnahme fand. Für die einen war es eine alles zermalmende Revolution, während die anderen sich nach einer kurzfristigen Lektüre davon abwandten und sich niemals wieder damit befassten."
Cavell lehnte philosophische Traditionen ab, die den Anspruch erhoben, die Welt durch ein widerspruchsfreies System zu erklären oder versprachen, dem Menschen einen metaphysischen Halt zu geben. Wie sein Lehrer John Austin betrachtete Cavell das Verlangen nach "Tiefe" als einen philosophischen Irrtum. Er konzen-trierte sich auf das Alltägliche, das Gewöhnliche, auf das, was jeder Mensch in seiner Existenz erfährt.
Der akademischen Philosophie mit ihrem kryptischen Vokabular warf Cavell vor, durch ihren Hochmut gegenüber dem Gewöhnlichen, dem Alltäglichen, den Menschen von seiner gewohnten Um- und Mitwelt zu entfremden. Für Cavell war der Glaube an die Metaphysik, an eine höhere Welt jenseits der Alltagswelt, eine bedauerliche Illusion, die seit Platon den philosophischen Mainstream bestimmt hat, wie Cavell im Gespräch betonte: "Das Gewöhnliche ist dasjenige, was die Metaphysik verleugnet oder überwinden möchte. Die Metaphysik ist eine Fiktion, die von den Philosophen geschaffen wird, die dem Alltäglichen, dem Gewöhnlichen entkommen wollen, die sich von den Vorurteilen und Prägungen lösen wollen, die das Alltagsleben bestimmen. Ich beziehe mich da auf Platons Höhle, die am Besten das gewöhnliche Leben schildert. Hier ist die Geburtsstätte des Gewöhnlichen, hier ist der Ort, wo Meinungen vorherrschen, auf die sich die Philosophie beziehen muss."
Philosophie innerhalb von Platons Höhle
Das Verweilen in der Höhle bedeutet jedoch nicht, dass sich die Menschen mit den Gegebenheiten, die sie dort vorfinden, einfach abfinden und die Höhle als die Beste aller Welten ansehen sollten. Diese kritiklose Akzeptanz wäre bloß ein konformes Verhalten, das nichts mit einer philosophischen Haltung zu tun hat. Philosophie, wie sie Cavell verstand, sollte zwar innerhalb der Höhle stattfinden; das heißt aber keineswegs, dass alles, was in der Höhle gesehen und erlebt wird, als Realität angesehen werden soll. Solch ein Verhalten folgt dem ursprünglichen Impuls der Philosophie, nämlich über das Vorgefundene nachzudenken und vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen.
Eine der Haupteigenschaften des Philosophierens besteht laut Cavell darin, die persönlichen und gesellschaftlichen Umstände, in denen man sich vorfindet und später befindet, mit Skepsis zu betrachten. Dabei folgt er einer philosophischen Tradition, die bis in die griechische Antike zurückreicht. Dort verstand man unter Skepsis "Das Um-sich-schauen", die Zurückhaltung und den Zweifel an Wahrheitsansprüchen, von denen behauptet wird, dass sie absolut gültig seien.
Diese Vorsicht gegenüber dogmatischen Deutungen der Welt erzeugt eine produktive Unruhe, weil ja der Philosophierende ständig den Realitätsgehalt seiner Lebenswelt hinterfragen und überprüfen muss. Es ist dies eine Denk- und Existenzbewegung, die sich bereits in den "Philosophischen Untersuchungen" von Ludwig Wittgenstein findet. Dort heißt es: "Die für uns wichtigen Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschungen fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist."
Für Cavell waren Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen" das zentrale Werk des 20. Jahrhunderts, das er immer wieder intensiv studierte und ausführlich kommentierte, speziell in seinem rund 750 Seiten umfassenden Buch "Der Anspruch der Vernunft". Ihn faszinierte Wittgensteins philosophischer Drahtseilakt: "Ich verstehe Wittgenstein als jemand, der uns nicht vom Nichtwissen zum Wissen führt, sondern ständig zwischen Verwirrung zur Klarheit, Chaos zur Ordnung oder zwischen Selbstverlust und Selbsterkenntnis hin und herpendelt."
Die von Wittgenstein beschriebene Pendelbewegung des Denkens verstand Cavell als Grundvoraussetzung für die "Wiedergewinnung des Gewöhnlichen". Die skeptische Haltung, die zur vorübergehenden Entfremdung von der vertrauten Welt führt, ist zwar ein taugliches Mittel, um den Wahrheitsanspruch philosophischer Entwürfe zu relativieren, darf aber nicht im radikalen Nihilismus enden, der alles in Frage stellt und vom Nichts ausgeht. Gegen die radikal-skeptische Weltsicht gibt es eine Therapie, die der Intention Wittgensteins folgt, der das Ziel seiner Philosophie darin sah, "der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen".
Für ein gelingendes Leben ist es von Vorteil, so Cavell, die Anregungen der moderaten Skepsis aufzunehmen und weiter zu entwickeln; nämlich das Wissen da-rum, dass wir in einer Welt leben, in der Gewissheiten und dogmatische Überzeugungen ihre Berechtigung verloren haben. Dieses Wissen um die Ungewissheiten verändert die vertraute Welt des Alltäglichen. Es fördert die Sensibilität des Menschen für die Um-und Mitwelt. Indem mir bewusst ist, so Cavell, dass meine Interpretationen der Welt, meine Beurteilungen von Sachverhalten und meine Urteile über Personen nur Momentaufnahmen darstellen, die zu keinen Werturteilen berechtigen, habe ich den ersten Schritt getan, um den Egozentrismus einzudämmen. Ich sehe mich selbst nicht mehr als Zentrum der Welt, sondern versuche, durch das einfühlsame Gespräch mit dem Anderen und die aufmerksame Hinwendung zum Gegenüber die menschliche Kommunikationsgemeinschaft zu verbessern.
Zwiespältigeslabyrinthisches Werk
Das kann nur in unermüdlichen Anläufen geschehen, denn dieses Bemühen kann auch ent- oder getäuscht werden. Das Bemühen, nach einer kritischen Selbstprüfung mit anderen Menschen in Einklang zu stehen, kann nie abgeschlossen werden; es ist ständig im Fluss. "Denken wir über uns nach, dann ist das, wie wenn wir auf einer langen Treppe stehen. Unter uns liegen Stufen, die wir, so scheint es, heraufgestiegen; über uns liegen Stufen, die nach oben weiter gehen, bis wir sie nicht mehr sehen."
Das labyrinthische Werk von Cavell fand eine zwiespältige Aufnahme: Einerseits wurde es wegen seines antimetaphysischen Gestus und dem Beharren auf dem Gewöhnlichen und Alltäglichen als origineller Beitrag zur zeitgenössischen Philosophie angesehen; andererseits wurde der Vorwurf erhoben, dass er seinen eigenen Anspruch, das Gewöhnliche zu nobilitieren, durch seine Schreibweise hintertreibe. Auf diese Kritik hätte Cavell mit Samuel Beckett geantwortet: "Immer versucht. Immer gescheitert. Macht nichts. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern."
Am 19. Juni ist Cavell 91-jährig in Boston gestorben.
Literaturhinweise:
Stanley Cavell: Der Anspruch der Vernunft - Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 2190.
Elisabeth Bronfen: Stanley Cavell zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2009.
Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.