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Die Aura des einen Tages

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Womöglich hätte der Sozialdemokrat Peer Steinbrück eine realistische Chance, deutscher Kanzler zu werden, wenn, ja wenn nicht die gesamte Berichterstattung vom genauen Gegenteil überzeugt wäre.

Der deutsche Wahlkampf ist nur das gravierendste Beispiel; auch hierzulande betätigen sich Medien und Politexperten nur zu gerne in der Rolle von Königsmachern.

Tatsächlich ist es eine der unsäglicheren Angewohnheiten dieser Branche, freie Wahlen schon vor dem Wahltag für entschieden zu erklären. Nicht nur, dass aus dieser Haltung eine fast schon unanständige Geringschätzung des Souveräns trieft, lässt sich mit der Ausrufung von angeblichen Siegern und Verlierern auch das schlussendliche Wahlergebnis manipulieren.

Natürlich nicht auf plumpe Weise; das menschliche Hirn kommt mitunter auf verworrenen Wegen zu politischen Entscheidungen. Aber grundsätzlich gilt: Wer politisch ungebunden ist, wird kaum Lust verspüren, am Wahlabend zu den Verlierern zu gehören; und schon gar niemand will seine Stimme verschenken, indem er für die eine oder andere Kleinpartei votiert, der alle ein Scheitern prognostizieren.

Der Mut, Sieger und Verlierer mit leichter Hand vorab zu küren, überrascht umso mehr, wenn man um die bescheidenen empirischen Grundlagen jener Studien und Umfragen weiß, die in aller Regel als Begründung für die Vogelschau herhalten. Tatsächlich würden die allermeisten bei korrekter statistischer Interpretation jegliche Aussagekraft verlieren. Selbstredend gibt es auch zuverlässigeres Material, nur lagert dies gut verschlossen in den Schubladen jener Parteien, die sich solche Studien leisten wollen bzw. können; und wenn doch einmal Teile den Weg in einzelne Redaktionen finden, darf man davon ausgehen, dass Kalkül dahintersteckt.

Natürlich gehören Umfragen dazu, auch das Spekulieren über Sieger und Verlierer. Daraus ergibt sich jedoch nicht das Recht so zu tun, als seien Wahlen schon lange vor dem Wahltag entschieden.

Demokratie braucht die besondere Aura des einen Tages, an dem sich die Bürger an die Urnen aufmachen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Natürlich ist das eine abstrakte Fiktion, allerdings eine höchst notwendige für das Funktionieren des größeren Ganzen. Wir sollten uns diese nicht mutwillig zerstören.