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Torhüter übernehmen die undankbarste Aufgabe im Fußball. Wie es ihnen vergolten wird? Sie gelten als Freaks.
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Für ein paar Sekunden schien Mexikos Torhüter Guillermo Ochoa im Match gegen Brasilien entrückt. Er blickte kurz in die Ferne, dann nickte er mehrmals, er nickte dabei keinem Mitspieler, sondern eher sich selbst zu, als wollte er sich sagen: "Ja, auch den habe ich gehalten." Soeben, in der 86. Spielminute, hatte Guillermo einen scharfen Kopfball von Thiago Silva mit einer Glanzparade abgewehrt und seiner Mannschaft das 0:0 gerettet.
Einen ganz anderen Anblick bot der russische Schlussmann Igor Akinfejew in der Partie gegen Südkorea. Er schlug sich die Hände vors Gesicht, und als dieses wieder zum Vorschein kam, sprach aus Akinfejews Blick die pure Verzweiflung. Dem Keeper der Sbornaja war soeben ein harmloser Weitschuss des Koreaners Lee Keun-Ho durch die Finger gerutscht. Sein Team musste daraufhin einem Rückstand nachlaufen, das Spiel endete 1:1.
Beide Aktionen hatten sich angekündigt, denn das Torwartspiel ist nicht nur eines der Reflexe, sondern auch eines der Psyche. Ochoa hatte schon zuvor großartige Paraden gezeigt. Immer wieder berichten Keeper davon, wie sich bei einem Tormann mit jedem gehaltenen Ball ein immer stärkeres Gefühl der Unbezwingbarkeit breitmacht. Akinfejew hingegen hatte schon zuvor zwei Bälle abprallen lassen, die er im Training blind fangen würde, und wirkte immer verunsicherter. Eine ähnliche Verunsicherung ließ sich ja auch bei Spaniens Goalie Iker Casillas beobachten. Dieser patzte nach dem Spiel gegen die Niederlande auch noch gegen Chile - und das nicht, weil er es nicht besser könnte.
Ein Goalie darf sich in 90 Minuten keinen einzigen Konzentrationsfehler leisten, kein Job im Fußball ist für den Kopf anstrengender. Und kein Job ist undankbarer.
Einem Stürmer können 90 Minuten lang die Bälle wegspringen, trifft er zum entscheidenden Tor, ist er der Held. Ein Goalie kann 90 Minuten lang glänzen, unterläuft ihm auch nur ein Schnitzer, ist er der Depp.
Das wirft die Frage auf, warum sich Menschen diese Position überhaupt antun? Der 2006 verstorbene Max Merkel bietet in seinem Buch "Das Runde ist der Ball" eine einfache Erklärung. Wenn sich junge Buben zum Fußballspielen treffen, dann wird immer der unfähigste Feldspieler ins Tor geschickt. Torhüter seien verhinderte Stürmer. Ein Blick auf viele moderne Tormänner, etwa Deutschlands Manuel Neuer, lässt die These der Spieler-, Trainer- und Boulevard-Legende aber auf tönernen Füßen stehen. Neuer ist nicht nur ein glänzender Keeper, sondern auch ein hervorragender Fußballer mit viel Ballgefühl.
Vielleicht gefällt es manchem Kind einfach, dass Torleute zumeist buntere Dressen tragen als der Rest der Mannschaft. Vielleicht will ein Kind einfach einmal nur anders sein als die anderen. Jedenfalls ist die Entscheidung für das Tor eine folgenschwere. Wer diesem einsamen Posten treu bleibt, dem wird nicht vergolten, dass er sich dafür geopfert hat, dass die restlichen Spieler ihren Spaß auf dem Feld haben können. Ganz im Gegenteil. Torhüter gelten als verschroben, als Freaks. Stellvertretend für die Fußballzunft sei hier Herr Weber, ein ehemaliger Nachwuchstrainer eines kleinen Wiener Vereins, zitiert: "Einer, der sich freiwillig 90 Minuten von einer Kugel abschießen lässt . . . der muss deppat sein."