Heimerziehung bleibt ein düsteres Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte.
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Berlin. "Im Kopf ist mehr drin, aber es hat nicht sollen sein mit mir", beginnt Robert scheinbar gefasst. Acht Stunden am Tag sortiert der Endfünfziger Altpapier. Als Kind wurde ihm Hochbegabung attestiert. Das war, als seine Mutter der DDR noch nicht den Rücken kehren wollte. Nach ihrem Ausreiseantrag landete Robert in einem staatlichen Kinderheim. "Es war immer wieder dunkel", setzt er zögerlich an. Gleich darauf bettelt er um eine Zeitung, zerfetzt sie, bricht zusammen. Tags darauf entschuldigt er sich. "Da war wieder die Gürtelschnalle in der Arrestzelle", atmet er schwer. Seltsam erleichtert ergänzt er: "Immerhin weiß ich inzwischen, was es war."
Jahrzehntelang war Robert für seine Mitmenschen "der ewige Wutbolzen". So sei er "auch an den Papierjob gekommen - da kann ich mich ohne Gefahr für andere abreagieren". Dabei konnte er sich nie erklären, warum er oft so unbeherrscht war. Doch seit Ende vergangenen Jahres spürt er eine Wandlung. Da bekam er einen neuen Chef. Einige Tage konnte er nicht einordnen, warum dieser ihn gleich duzte. Inzwischen weiß er, dass er in dem Heim arbeitete, wo Robert untergebracht war. "Da kam alles auf einmal wieder hoch, ich habe Tage gewürgt in Erinnerung daran, wie ich Erbrochenes aufessen sollte. Und jetzt wäre es gut darüber zu sprechen. Aber wir haben doch Befehl zu schweigen, und jetzt weiß ich nicht...", sinkt Robert in sich zusammen.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer sind längst noch nicht alle düsteren Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte aufgearbeitet. Erst in jüngster Zeit interessiert sich die Öffentlichkeit für das Schicksal von Heimkindern in der DDR und der früheren Bundesrepublik. Im Jahre 2012 wurden nach langem Ringen zwei Fonds zu ihrer Entschädigung aufgelegt. Der eine betrifft die Heimerziehung in der DDR zwischen 1949 und 1990 (Heimerziehung Ost), der andere die Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975 (Heimerziehung West). Betroffene können höchstens noch bis Jahresende Entschädigung beantragen.
Die Diskussion über ehemalige Heimkinder in der DDR brachte ausgerechnet ein Interview mit Margot Honecker ins Rollen, das die ARD Anfang April 2012 ausstrahlte. Die einstige Ministerin für Volksbildung zeigte darin keinerlei Mitgefühl für frühere Insassen des Geschlossenen Jugendwerkshofs in Torgau. Das löste einen tagelangen Sturm der Entrüstung aus. Die Kritik entzündete sich allerdings vor allem an Honeckers unmenschlicher Kaltschnäuzigkeit, nur die wenigsten hatten einen Begriff davon, was sich zu DDR-Zeiten tatsächlich in der sächsischen Kleinstadt abgespielt hatte. Seither haben sich eine Reihe Historiker und Dokumentarfilmer an die systematische Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR gewagt.
Opfer waren Hoffnungsträger
Ohne Hilfe von Zeitzeugen können sie jedoch nur einen Bruchteil des Grauens nachvollziehen, der sich in 47 Kinder-, Spezial- und Durchgangsheimen sowie Jugendwerkshöfen abspielte. Hier lebten junge Menschen, die etwa in der Schule auffällig waren oder sich dem Konformitätsdruck widersetzten. Einweisungsgründe für den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau waren "sexuelle Triebhaftigkeit", "abweichendes Verhalten" oder "Schwererziehbarkeit". Nach der Entmachtung Erich und Margot Honeckers im Oktober 1989 machte sich die SED-Führung umgehend daran, Beweise über den "Makel Torgau", gemeint war damit das gesamte System der DDR-Heimerziehung, zu vernichten.
Im März haben sich erstmals zwei frühere Torgau-Insassen mit umfangreichen Erinnerungen zu Wort gemeldet. Sonja Rachow hat Silke Kettelhake ihre Lebensgeschichte unter dem Titel "Sonja: negativ-dekadent" anvertraut. Dietmar Rummel wiederum hat den autobiographischen Roman "Die (Zellen-)Tür schlägt zu: Dich kriegen wir auch noch" vorgelegt.
Wie Robert wurden beide zu Beginn ihrer Schulzeit als hochintelligent eingestuft und waren damit eigentlich Hoffnungsträger der DDR. Beide waren jedoch von klein auf oft allein zuhause und gerieten damit früh ins Visier der Staatssicherheit. Sonja Rachow wurde im Staatsauftrag sogar systematisch von ihrer eigenen Mutter Leonore Plog überwacht, "wegen schlechten Umgangs mit Langhaarigen" von dieser gemeldet und kam daraufhin ins Heim. Plog hatte sich als inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit verpflichtet um selbst Unannehmlichkeiten zu entgehen, die ihr wegen eines extravaganten Lebensstils drohten.
Zöglinge mundtot gemacht
"Die Umerziehung zur sozialistischen Persönlichkeit im geschlossenen Jugendwerkshof Torgau, stets im Kollektiv und im Laufschritt, bedeutete nichts anderes als die Auslöschung des Ichs", bringt Rachow ihre Erfahrungen auf den Punkt. Sie und Rummel sind Ausnahmeerscheinungen, weil sie zumindest nach der Wende von 1989 wieder in eine Art Normalität zurückfanden. Die einstigen Heimkinder durften nach ihrer Entlassung nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Das hatte in der DDR System, stellte man in der Universität Greifswald fest: Opfer der Stasi wurden gezielt psychisch und medikamentös zurechtgestutzt, um später nichts mehr aussagen zu können. Deshalb haben nicht wenige das Geschehen in Torgau und anderswo derart verdrängt, dass sie eben so wie Robert keinerlei oder zumindest für sehr lange Zeit keine Erinnerungen mehr daran haben. Mit Kindheit und Jugend im Heim waren Menschen wie sie in der DDR stigmatisiert, und anders als Sonja Rachow und Dietmar Rummel fassten die meisten ehemaligen Heimkinder nach der Wiedervereinigung in der Regel gesellschaftlich nie Tritt.
Am 1. Juli 2012 wurde der Fonds "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990" aufgelegt. Geschätzte 30.000 Opfer sollen für erlittenes Leid durch die DDR-"Jugendhilfe" entschädigt werden. Insgesamt 65 Millionen Euro wurden dafür bereitgestellt. Bis zu 10.000 Euro erhält, wer unter der repressiven Heimerziehung Schaden genommen hat. Inzwischen wurden etwa 3500 Anträge bewilligt, weitere 10.000 befinden sich in Bearbeitung.
25 Jahre nach dem Fall der Mauer sieht es so aus, als hätten nur in DDR-Kinderheimen katastrophale Zustände geherrscht. Kaum thematisiert wird jedoch, was sich Westdeutschland abspielte. Etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche lebten von 1949 bis 1975 in Heimen in der Bundesrepublik Deutschland. Überwiegend befanden sich diese Heime in kirchlicher Hand. Ein weiterer Teil wurde von der öffentlichen Hand oder anderen freien Trägern und Privatpersonen betrieben. Viele der in den Heimen untergebrachten 14- bis 21-jährigen Fürsorgezöglinge sollen unter missbräuchlichen Erziehungsmethoden wie entwürdigenden Bestrafungen, willkürlichem Einsperren und vollständiger Entmündigung durch die Erzieher gelitten und Zwangsarbeit verrichtet haben.
Die Aufarbeitung des Geschehens in den westdeutschen Kinderheimen gestaltet sich fast noch schwieriger als die des Alltags in den früheren DDR-Einrichtungen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es um Vorgänge geht, die mindestens vier Jahrzehnte zurückliegen. Der Erziehungswissenschafter Manfred Kappeler, der die Belange ehemaliger Heimkinder in politischen und fachlichen Gremien wahrnimmt, weist beispielsweise darauf hin, dass man es früheren Heimkindern nicht zumuten könne, erlittene Misshandlungen minutiös nachweisen um eine Entschädigung zu erhalten. Schließlich sei vielen in der Monotonie der Einrichtungen jedes Zeitgefühl abhanden gekommen.