Zum Hauptinhalt springen

Die Bahnhofsstürmer von Stuttgart

Von WZ-Korrespondentin Christine Zeiner

Europaarchiv
Begleitet von lautstarken Demonstrationen hat der Abriss des alten Bahnhofs am Mittwoch begonnen. Foto: ap

Zehntausende protestieren seit Wochen gegen Neubau "Stuttgart 21". | Abriss des alten Bahnhofs lässt jetzt die Lage eskalieren. | Stuttgart. Der Widerstand ist gewaltig. Über Wochen schon greifen die Stuttgarter um Punkt 19 Uhr eine Minute lang zu Trillerpfeifen, Vuvuzelas, Topfdeckeln und allem, was sonst noch laut ist, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen. Und in Deutschland vergeht kein Tag, an dem nicht darüber berichtet wird: In Stuttgart ist Schwabenaufstand. Aus allen Teilen der Bevölkerung kommt der Protest gegen das derzeit größte Infrastrukturvorhaben in der Republik: "Stuttgart 21".


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Anstelle des siebzehngleisigen Kopfbahnhofs soll in der Hauptstadt Baden-Württembergs in den nächsten Jahren ein unterirdischer achtgleisiger Durchgangsbahnhof inklusive Anbindung an den Stuttgarter Flughafen gebaut werden. Über der neuen Station würde dann eine Fußgängerzone entstehen, die mit ihre riesigen, gläsernen Lichtkuppeln wie eine Buckelpiste für überdimensionale Skifahrer wirkt.

Das Projekt haben CDU, SPD und FDP seit Jahren vor. Grüne und Linke sind dagegen -- und mit ihnen nicht nur Umweltschutzorganisationen und sozialdemokratische Ortsverbände, sondern tausende Bürger aller Couleurs. Manche finden den im Jahr 1922 eröffneten Bahnhof "schön", andere "hässlich", tatsächlich tut das kaum etwas zur Sache. Für etliche ist er ein Wahrzeichen, das als Ganzes erhalten bleiben soll: Viel alte Substanz gibt es ohnehin nicht mehr. Von dem denkmalgeschützten Bahnhof sollen die Seitenflügel fallen. Vor allem aber ist das Gebäude ein Symbol für fehlende Mitsprache.

Neuer Stadtteil geplant

Viele in der Bevölkerung fühlen sich von den verantwortlichen Politikern übergangen. Sie fordern eine Bürgerbefragung: Niemand habe sich je darum gekümmert, ob sie das milliardenschwere Projekt wollen oder nicht. Wolfgang Drexler, Projektsprecher von Stuttgart 21, verweist indes darauf, dass parlamentarisch entschieden worden sei. Die Emotionen sind groß, die Fronten verhärtet.

Am vergangenen Freitag waren tausende verärgerte Bürger noch schweigend durch die Stuttgarter Innenstadt gezogen. "Alles gesagt - Stuttgart 21 stoppen" stand auf Transparenten und "Stille vor dem Sturm".

Am Mittwoch, als der Abriss begann, ging der Sturm dann los. Binnen Minuten versammelten sich Dutzende Menschen vor dem Bahnhof und sahen entsetzt und wütend zu, wie der Bagger den Nordflügel bearbeitete. Eine zweite Absperrung und Polizisten sollte sie daran hindern, der Baustelle näher zu kommen. Einigen Aktivisten gelang es am Donnerstag dennoch, das Bahnhofsdach zu besetzten und damit eine Einstellung der Arbeiten zu erzwingen. Demonstranten, die sich direkt davor zu einer Sitzblockade versammelt hatten, trug die Polizei weg. Die Proteste hätten ihren friedlichen Charakter verloren und die "Grenzen des zivilen Ungehorsams" überschritten, sagte Polizeipräsident Siegfried Stumpf. Tausende Gegner von Stuttgart 21 demonstrierten dennoch den ganze Donnerstag über weiter.

Vom Nutzen des neuen Bahnhofs - von "hochmoderner Technik, wegweisender Architektur und einer intelligenten Infrastruktur" ist im Kommunikationsbüro des Projekts die Rede - sind die Kritiker nicht überzeugt. Dass dort, wo heute Gleise sind, in einigen Jahren ein neues Stadtviertel in bester Lage und mit viel Grün entstehen soll, beantworten sie mit einem Kopfschütteln: Man geht von einer "trostlosen neuen City" aus. Und man fürchtet, dass der unterirdische Neubau Mineralquellen gefährden könnte. Außerdem wird mit explodierenden Kosten gerechnet.

Bei der Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung im April 2009 wurden für "Stuttgart 21" Kosten von 3,076 Milliarden Euro angesetzt und vertraglich vereinbart. Im Dezember 2009 ergab die Kostenrechnung einen Bedarf von 4,088 Milliarden Euro. Finanziert wird das Projekt von der Deutschen Bahn, vom Bund, vom Land und von der Stadt sowie dem Flughafen Stuttgart und dem Verband "Region Stuttgart". Statt auf das "Prestigeobjekt" - wie die Kritiker "Stuttgart 21" nennen - zu setzen und auf wenige Hochgeschwindigkeitsstrecken sollte besser der Regionalverkehr ausgebaut werden, sagen sie. Ein Aufgeben kommt für die Gegner dabei nicht in Frage. Am heutigen Freitagabend soll eine weitere Großdemonstration stattfinden.