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Die Bastion der Kemalisten fällt

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Auch Vertreter der alten, säkularen Elite waren am Putsch beteiligt. Das Militär wird nun vollständig der Regierung untergeordnet.


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Istanbul. Als sie erkannten, dass ihre Pläne gescheitert waren und das Volk auf den Straßen die Republik gegen die Putschisten und ihre Panzer verteidigte, wollten die Anführer des blutigen Staatsstreiches aus der Türkei fliehen. Fast hätten sie es noch geschafft, ihr Hauptquartier auf der Akinci-Luftwaffenbasis nahe der Hauptstadt Ankara zu verlassen. Drei Cargo-Maschinen waren für den Notstart vorbereitet. Doch dann bombardierten loyale Piloten der Luftwaffe die Armeebasis und vereitelten die Flucht der Aufständischen.

Nach und nach dringen mehr Details der gescheiterten Rebellion vom 15. Juli, die mehr als 240 Tote forderte, an die Öffentlichkeit. Nachdem Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bereits in der Putschnacht die Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen dafür verantwortlich machte, sind zwar inzwischen rund 3300 Angehörige des Militärs verhaftet worden, darunter neben 1099 niedrigeren Offizieren und 330 Unteroffizieren auch 149 Generäle und Admirale, was etwa 40 Prozent der Armeeführung entspricht.

Regierung bleibt Antworten zum Putsch schuldig

Doch auf entscheidende Fragen bleibt die Regierung weiterhin Antworten schuldig. Wie ist es möglich, dass angeblich fast die Hälfte der Militärführung mit den Gülenisten sympathisierte und dies nicht bekannt war? Wer war der militärische Anführer der Rebellion? Wer sollte die Regierung übernehmen? Und wieso ist Hakan Fidan, Chef des Geheimdienstes MIT, weiter im Amt, obwohl er am 15. Juli trotz frühzeitig durchgesickerter Informationen den Staatspräsidenten nicht einweihte und ihn dadurch einer tödlichen Gefahr aussetzte?

Von "Täuschung und Desinformation", spricht der für die Johns-Hopkins-Universität tätige britische Türkei-Experte Gareth Jenkins, der sich seit den 1990er Jahren mit der Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft befasst. Der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte die Armee einst als eine Art Staat im Staate und wichtigste Stütze des Säkularismus installiert. Mehrfach hatte sich das Militär angemaßt, die türkische Politik zu bestimmen, hatte seit 1960 viermal gegen demokratisch gewählte Regierungen geputscht, doch dabei nie zuvor auf das Volk geschossen.

"Der 15. Juli hat diesen Mythos zerstört", sagt Jenkins. "Der Putschversuch ist eine absolute Katastrophe für die Generäle. Das öffentliche Image der Truppe ist total zerstört." Jenkins bestätigt, dass die Gülenisten seit den 1980er Jahren das Militär infiltrierten, doch sei es der Armeeführung bis zum Wahlerfolg von Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei AKP meist gelungen, sie zu identifizieren und aus dem Dienst zu entfernen. "Nur wenige schlüpften durch die Maschen." Das habe sich seit Erdogans Machtantritt 2002 geändert. Da es aber rund 25 Jahre dauere, bis ein Soldat an der Schwelle zum Generalsrang stehe, sei es selbst mit den erwiesenen juristischen Manipulationen der Gülenisten ausgeschlossen, dass sie inzwischen 40 Prozent der Militärführung okkupiert hätten.

"Die Gülenisten haben den Putschversuch vielleicht angestoßen, aber es waren sehr viele andere Generäle beteiligt", sagt Jenkins. "Von vielen der Verhafteten ist bekannt, dass sie hartgesottene Kemalisten sind. Doch in den türkischen Medien wird das Thema ausgespart, weil die Regierung keine zweite Front neben den Gülenisten haben will." Es habe Gründe auch für kemalistische Offiziere gegeben, sich den Putschisten anzuschließen. So standen nicht nur Massenentlassungen an, sondern die Regierung hatte auch begonnen, den schwerreichen Pensionsfonds des Militärs zu attackieren. Der Putschversuch sei offenbar lange geplant gewesen, dann aber überhastet gestartet worden, sagt Jenkins. Mit ihrer Rebellion hätten die Putschgeneräle nicht nur dem Kemalismus den Todesstoß versetzt, sie hätten auch das Militär in einer Weise geschädigt, von der es sich lange mehr werde erholen können.

Die Regierung hat mit Notfalldekreten inzwischen eine überfällige Militärreform eingeleitet, die auch von der Opposition begrüßt wird. Sie unterstellt die Armee nicht nur der zivilen politischen Führung, sondern zerschlägt auch den militärisch-kemalistischen Komplex endgültig. Als wichtigste Maßnahme wurden Heer, Marine und Luftwaffe dem Verteidigungsministerium unterstellt, Gendarmarie und Küstenwache ausgegliedert und dem Innenministerium zugeschlagen. Der Generalstab selbst soll künftig nicht mehr dem Regierungschef, sondern dem Staatspräsidenten unterstellt werden. Im "Hohen Militärrat", der für Beförderungen und Entlassungen zuständig ist, werden in Zukunft mehr Minister und weniger Generäle sitzen.

Mit der Schließung aller Militärgymnasien und der Kriegsakademie verliert der Generalstab zugleich sein Ausbildungs- und Ideologiemonopol über die angehenden Offiziere. Stattdessen soll eine neue Verteidigungsuniversität nun auch Absolventen der religiösen Imam-Hatip-Schulen aufnehmen - ideologische Wendungen sind zu erwarten. Als weitere Maßnahme verfügte Erdogan die Schließung der Kasernen in Ankara und Istanbul, damit Putschisten nie wieder Panzer in die Stadtzentren rollen lassen können. "Insgesamt wird das Militär praktisch vollständig der Regierung und damit Erdogan untergeordnet", sagt der Türkei-Experte Jenkins.

Geschwächte Armee alsgroßes Problem für die Nato

Das anhaltende Misstrauen der Regierung gegenüber dem Militär kommt auch in ihrer Ankündigung zum Ausdruck, die Polizei mit schweren Waffen auszustatten und damit als bewaffnete Gegenkraft zum Militär zu stärken. Jenkins befürchtet jetzt eine Politisierung der Armee unter umgekehrten Vorzeichen - statt Kemalisten könnten Islamisten den Vorzug bei Beförderungen erhalten. Zugleich schwächten die Entlassungen und Verhaftungen die Kampfkraft des Militärs. "Die Hälfte aller Piloten sitzt im Gefängnis. Doch neue Piloten auszubilden dauert Jahre und kostet ein Vermögen." Dutzende geschasste Generäle seien nicht im Handumdrehen zu ersetzen; und ihre Untergebenen würden sich bei jedem neuen Einsatzbefehl fragen, ob dieser vielleicht von Putschisten komme. "Dieses Misstrauen wird alles zersetzen", sagt Jenkins. Eine geschwächte türkische Armee aber bedeute militärische Vorteile für ihre Feinde wie die kurdische PKK und die Dschihadistenmiliz IS. "Für die Nato entsteht damit ein massives Problem an ihrer Südflanke. Und in der Regierung wird man sich immer wieder die Frage stellen: Haben wir wirklich genug getan, um die Kasernen zu säubern?"

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