Der flämische Autor und Teilzeit-Bauer Chris de Stoop über die Enteignung von Landwirten, über künstliche Wildnis und die Zerstörung des kulturellen Erbes auf dem Land.
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Als sein Bruder im Jahr 2010 plötzlich starb, war Chris de Stoop in Haiti und berichtete als Reporter vom Überleben der Kleinbauern nach dem starken Erdbeben dort. Er, der Stadtmensch und Intellektuelle, musste nun sofort über die Zukunft des elterlichen Hofs entscheiden und beschloss, als Teilzeit-Landwirt aufs Land zurückzukehren. Nebenbei wollte er weiterhin Bücher schreiben. Bis dahin hatte er Romane und literarische Reportagen etwa über den internationalen Frauenhandel und Illegale in Europa veröffentlicht.
Nun ist sein vielfach ausgezeichnetes Buch "Das ist mein Hof" auf Deutsch erschienen. In den Niederlanden und in Belgien ist die Mischung aus Familiengeschichte, Krimi und Essay ein Bestseller. De Stoops malerische Beschreibungen dieser einzigartigen Kulturlandschaft, die persönlichen Erinnerungen an Kindheit und Familie, aber auch die Schilderungen des Kampfes der Bauern ums Überleben berühren stark.
Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und philosophischer Fragen wie danach, was Natur, was Kultur ist, wie wir leben wollen, was uns mit vorherigen Generationen verbindet oder was uns Halt im Leben gibt, erzählt er spannend, manchmal wehmütig, dann wieder staunend und selbstironisch von der Geschichte seiner Heimatregion und dem Alltag der Bauern früher und heute oder vom Niedergang landwirtschaftlicher Familienbetriebe. Der Autor trifft Wissenschafter und grüne Aktivisten, Politiker und befreundete Bauern, schreibt über die Lebensräume von Nutz- und Wildtieren, wahnwitzige Auswirkungen mancher EU-Regularien und widerstreitende Interessen von Wirtschaft, Naturschützern und Landwirten.
"Wiener Zeitung": Herr de Stoop, wie würden Sie Ihre Heimatregion kurz beschreiben?
Chris de Stoop: Ich wurde auf einem Bauernhof in den Poldern geboren, dem Land, das dem Meer seit dem Mittelalter abgerungen wurde. Die Region liegt an der Grenze Belgiens zu den Niederlanden, am linken Ufer des Schelde-Flusses. Es ist sehr schönes Agrarland mit sehr stolzen Bauern, die das Land trockengelegt, fruchtbar gemacht und gegen Sturmfluten gesichert haben. Als Junge war ich Mitglied der grünen Bewegung, beobachtete gerne Vögel. Ich liebte unseren Hof, die Felder, die Natur. Aber der Hof wurde von meinem älteren Bruder übernommen, wie es Tradition war, und ich ging zur Universität und wurde Reporter.
Als mein Bruder starb und meine kranke Mutter in ein Altenheim umziehen musste, konnte ich nicht weitermachen wie vorher. Ich kümmere mich nun um den Hof und schreibe Bücher. Das Vieh konnte ich nicht halten. Ich baue nur noch Weizen, Mais und Kartoffeln an und habe Heuwiesen, das meiste Land ist verpachtet. Die Arbeit vermittelt mir das Gefühl, etwas vor langer Zeit Verlorenes wiedergefunden zu haben: die tiefe Verbundenheit mit einem Ort, wo ich hingehöre.
Fiel es Ihnen nicht schwer, sich auf dem Land wieder einzugewöhnen?
Natürlich war ich schockiert von der Veränderung der Landschaft und der deprimierenden Situation der Bauern. Die Politik des Immer-mehr-Produzierens für den Export, die von der Europäischen Union vorangetrieben wurde, ist gescheitert. Wir müssen zurück zur kurzen Lieferkette und zum regionalen Handel. Meine Geschichte steht für das Landleben in ganz Europa. In unserer Region ist die Lage so extrem, weil zwei Drittel des Polders vom Antwerpener Hafen besetzt sind und das letzte Drittel für Kompensationen von Naturschutzgebieten eingesetzt wird, die von der Hafenerweiterung zerstört wurden. Bis jetzt wurden mehr als 4000 Menschen enteignet und somit vertrieben. Und die letzten kleinen Gemeinden sind davon bedroht.
Wann begannen die Enteignungen für neue Naturschutzgebiete?
Das geht so seit zehn Jahren und ist ein Ergebnis der europäischen Politik der Kompensationen. Vorher gab es auf den Poldern Deiche und Gräben neben Feldern und Wiesen, dazwischen kleine Wasserläufe und Wäldchen. Jetzt wird getrennt von den landwirtschaftlichen Flächen "neue Natur" oder sogar "neue Wildnis" geschaffen, die Menschen oft nicht betreten dürfen. Für diese künstlich angelegte Natur enteignet zu werden, ist für die Menschen noch härter als Land an den Hafen zu verlieren, wo ihre Kinder vielleicht einen Job finden.
Sie beschreiben ferner, wie "entsetzlich niedrige Preise" für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Umweltverordnungen und Kontrollen in den letzten 20 Jahren in Belgien zur Halbierung der Anzahl der Bauern führten. In Österreich sank die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe von 1999 bis 2010 um ein Fünftel. Mehr als die Hälfte der Bauern sind nur noch im Nebenerwerb Landwirte.
Das ist wohl in vielen EU-Ländern ähnlich. In Flandern wurde in den fünfziger und sechziger Jahren in vieler Hinsicht noch wie auf den Gemälden Breughels Landwirtschaft betrieben: harte Arbeit mit einfachen Werkzeugen wie im Mittelalter. Die Generation im Alter meines Vaters durchlief eine Art Turbo-Revolution. Ab den Siebzigern zwang die europäische Politik die Bauern, immer weiter zu wachsen - oder aufzugeben. An der Straße, an der mein Hof liegt, lebten in meiner Kindheit zwölf Bauernfamilien und ein Schäfer. Jetzt ist ein Bauer "der letzte Mohikaner", wie er sagt. Bis letztes Jahr war ein zweiter da, der extrem frustriert nach Frankreich floh und dort einen Hof übernahm. Auf seinem Land befindet sich jetzt ein Asyl für misshandelte Esel.
In Ihrem Buch führen Sie auch plastisch vor Augen, wie komplex die Regeln und Strukturen auf dem Land sind. Gleichzeitig sprechen Sie mit Sätzen wie "Woher kommt bloß das Verlangen, das diese Landschaft in mir hervorruft?" Melancholie und Sehnsucht an, die in vielen Lesern etwas zum Klingen bringt.
Mehr und mehr Menschen fühlen, dass sie sich von der Natur, von sich selbst entfremdet haben. Sie suchen etwas Authentisches, Reales. Das finden sie auf dem Land, in Bio-Produkten und so weiter. In den letzten Jahrzehnten haben die meisten Menschen einen urbanen Blick auf die Natur bekommen. Die Natur ist für sie etwas für den Sommer, sie erleben sie als Besucher. Aber es gibt viele Arten von Natur, ich nenne sie fifty shades of green. Es kann in Europa nicht nur Top-Natur geben, wie sie Biologen und Ökologen für uns wünschen.
Wenn Sie über das Riesengeschäft bei Anlage neuer Naturreservate schreiben, wird Ihr Ton bissig. Auch wenn es darum geht, was bei der "Renaturierung" an Natur zerstört wird, etwa Ställe, in denen Eulen und Fledermäuse brüten, oder alte Bäume, die Tümpeln für Kreuzkröten weichen müssen.
Multinationale Beratungsfirmen wie Arcadis in Holland entwerfen neue Naturreservate in Belgien, Holland, Deutschland, überall auf der Welt. Bei denen können Sie sich Ihr Wunsch-Ökosystem aus dem Katalog bestellen. Das Schlimmste ist, dass sie die ein bis zwei Meter dicke Lehmschicht entfernen, die unser Land zu einem der fruchtbarsten in Europa gemacht hat. In den Augen der Bauern ist das unmoralisch. Wie will man eine wachsende Weltbevölkerung ernähren, wenn man Europas fruchtbarste Böden zerstört?
Offenbar gibt es auch in Ihrer Region wenig Solidarität mit den Bauern. Liegt das nicht auch daran, dass die traditionelle Landwirtschaft zu lange schon die Böden überdüngt und auslaugt?
Natürlich brauchen wir den Umweltschutz, den Kampf gegen Überdüngung. Aber wenn ich mit Bauern spreche, bin ich tief bewegt von ihrer Liebe zu ihrem Hof und den Feldern und von dem Wissen, das sie aus der täglichen Arbeit und dem Leben mit der Natur erworben haben. All dies ginge verloren, würde die traditionelle Landwirtschaft eines Tages vollständig dem Agro-Business weichen. Das wäre nicht nur ein großer Verlust für die Bauern, wir alle würden die Beziehung zu unseren Nahrungsmitteln und unseren Wurzeln verlieren. Es gibt nicht nur den ökologischen Wert einer Landschaft, der auch für mich sehr wichtig ist. Es gibt auch einen historischen, ökonomischen, sozialen, moralischen und einen ästhetischen Wert. Wir brauchen das tiefere Verständnis für die Kultur der Landwirtschaft. Die meisten von uns sind erst seit einer, zwei, höchstens drei Generationen keine Bauern mehr, das haben wir verdrängt. Wir finden lokale Stämme in Borneo extrem interessant, aber wir wissen nichts über unsere ursprüngliche Kultur. Wir interessieren uns nicht dafür, obwohl das unser kulturelles Erbe ist - und die Bauern unsere Aborigines.
Wie ist es möglich, dass Familien, die oft seit dem 16. Jahrhundert dort leben, für Naturreservate von ihrem Land vertrieben werden?
Es ist eine legale Form der Enteignung. Ein Bulldozer kommt und macht den jahrhundertealten Hof innerhalb eines Tages platt. In den Städten würde man nie eine alte Kirche plattmachen und sie durch eine neue ersetzen. Aber was ist mit dem Kulturerbe auf dem Land? Niemand spricht über diese kulturelle und soziale Tragödie. 2014 wurde in den Niederlanden eine Studie über Suizide von Bauern veröffentlicht, die besagt, dass doppelt so viele Bauern Suizid begehen wie Angehörige anderer Berufsgruppen. Ich bin sicher, in anderen EU-Ländern sind die Zahlen ähnlich.
Chris de Stoop: Das ist mein Hof. Aus dem Niederländischent von Birgit Erdmann. S. Fischer, Frankfurt/M. 2016, 320 Seiten, 23,70 Euro.
Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur- und Reisejournalistin in Hamburg.