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Experte: "Heilung ist aber in den nächsten zehn Jahren nicht zu erwarten."
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Kiel/New York. Blauer Himmel, strahlende Sonne und ein Sonntagswetter, das man sich besser nicht wünschen könnte. Trotzdem nagende Kopfschmerzen. Eine Schlechtwetterfront ist auf dem Vormarsch und soll am Abend die Stadt erreichen. Doch selbst der Regen bringt keine Erleichterung - das Kopfweh sticht dennoch weiterhin wie eine Dornenkrone.
Rund 14 Prozent der Erwachsenen leiden an Migräne. Sie tritt meist attackenartig auf mit heftig pulsierenden Kopfschmerzen, Übelkeit bis zum Erbrechen, Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Lärm und Gerüchen, einem erhöhten Ruhebedürfnis und Konzentrationsstörungen. 15 bis 20 Prozent der Betroffenen leiden an Migräne mit Aura, die vorübergehende Funktionsstörungen der Hirnrinde zur Folge hat, was die visuelle Wahrnehmung oder die Sprache beeinträchtigen kann.
Über 100.000 Probanden
Entgegen landläufigen Vermutungen werden Migräne-Attacken nicht nachweisbar von Wetterumschwüngen ausgelöst. Sondern "es ist unbestritten, dass die Grundlagen für häufige Migräne-Attacken in den Genen liegen", sagt Christian Wöber, Chef der Kopfschmerz-Ambulanz im AKH Wien. Doch dieses Wissen allein heilt Migräne nicht. Denn jedes Gen löst einen molekularen Mechanismus im Körper aus, und über die molekularen Mechanismen von Migräne sei noch sehr wenig bekannt, berichtet ein internationales Wissenschafterteam im Fachjournal "Nature Genetics".
Die Forscher um Verneri Anttila von der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, haben neue genetische Risikofaktoren für Migräne entdeckt. Sie identifizierten fünf bisher unbekannte Genregionen, die für die Entstehung der Krankheit mitverantwortlich sein sollen. "Auf dieser Grundlage kann nun gezielt die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden erfolgen, die präzise in die Entstehungsmechanismen der Migräne eingreifen", erklärt Mitautor Hartmut Göbel vom Migränezentrum der Schmerzklinik Kiel.
Die Studie stützt sich auf die Untersuchung von mehr als 100.000 Probanden. Die rund 100 beteiligten Forscher analysierten Daten von 29 Genom-Studien mit 23.285 Migränepatienten und 95.425 Kontrollpersonen. Es handelt sich nach Angaben der Wissenschafter um die bisher umfangreichste Studie zu den genetischen Faktoren von Migräne.
Die Forscher beschreiben insgesamt zwölf Regionen im Erbgut von Migränepatienten, die für das Erkrankungsrisiko mitverantwortlich sind. Acht Regionen wurden in der Nähe von Genen entdeckt, die bei der Kontrolle von Hirnschaltkreisen eine Rolle spielen, zwei seien für die Aufrechterhaltung der normalen Hirn- und Nervenzellfunktion verantwortlich. Die Steuerung dieser Schaltkreise sei bedeutsam für das genetische Risiko, an Migräne zu erkranken, berichtet die Schmerzklinik Kiel.
Bisher gab es hunderte Studien zur Genetik der Migräne. Die so weit entdeckten Ursachen könnten 20 bis 30 Prozent des Erkrankungsrisikos erklären - vorausgesetzt, vertiefende Forschungsarbeiten bestätigen die Hinweise. Wöber betont: "Bei dieser Analyse wurden einige Gene gefunden, die bei Menschen mit Migräne häufiger vorkommen als bei anderen. Daraus wurden Kandidaten-Gene identifiziert, die besonders interessant sind für weitere Untersuchungen. Denn nur weil man ein Gen identifiziert hat, weiß man noch lange nicht, was es tut und für welche molekularen Prozesse es verantwortlich ist."
Der Leiter der Wiener Kopfschmerz-Ambulanz erklärt dazu: "Migräne nimmt bei allen Betroffenen einen sehr ähnlichen Verlauf, was die Charakteristik der Attacken betrifft. Sie kann aber auf genetischer Ebene unterschiedliche Tücken haben." Konkret: Jene Beschwerden, die wir als Migräne diagnostizieren, sehen bei den meisten Menschen gleich aus, können aber durch völlig unterschiedliche Gene ausgelöst sein. Erst wenn bekannt sei, welche Funktion diese Gene genau haben, könne man gezielt überlegen, welche Medikamente dagegen wirken. Die Studie sei also "ein ganz wesentlicher Fortschritt, eine Heilung ist aber in den nächsten zehn Jahren nicht zu erwarten".