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Die „Empörten” wollen Chancen

Von Georg Friesenbichler

Politik

Mittelstand nimmt arabische Revolution als Vorbild.


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Wien. Im frühen Mittelalter hat der arabische Raum unter anderem Mathematik, Architektur und Philosophie Europas erheblich bereichert. Heute scheint dasselbe für Protestbewegungen zu gelten. War es Anfang des Jahres der Tahrir-Platz in Kairo, auf dem für mehr Demokratie gekämpft wurde, demonstrierten ab 15. Mai auf dem Platz Puerta del Sol im Zentrum Madrids, wenig später auf dem Syntagma-Platz in Athen vorwiegend junge Menschen gegen die bisherige Politik. Zur Zeit findet man auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv ein Äquivalent dazu, auf dem ein Zeltlager entstanden ist, um gegen hohe Lebenshaltungskosten zu protestieren.

Es gibt Unterschiede: In Spanien versammelten sich unter der Bezeichnung „Die Empörten”, entlehnt von dem Buch „Empört euch!” des 93-jährigen ehemaligen Widerstandskämpfers Stephane Hessel, keineswegs nur junge Leute, sondern alle Schichten der Gesellschaft. Ähnliches gilt für Griechenland, wo es vor allem auch gegen das von der EU verordnete Sparprogramm ging.

Aber die Gemeinsamkeiten überwiegen: Wie schon zuvor in Tunesien und Ägypten gingen die Proteste von jungen, gut ausgebildeten Leuten aus. Sie fanden sich über das Internet zusammen, um gegen eine Gesellschaft zu protestieren, die ihnen ihre Lebenschancen nimmt. Der Kampf um Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen, gegen hohe Preise und gegen Korruption standen dabei im Mittelpunkt.

Bei den Arabern trat bald das Ringen um politische Emanzipation, gegen die diktatorischen Regime in ihren Staaten hinzu. Aber auch die spanische Protestbewegung nannte sich „Democracia Real Ya!” („Echte Demokratie jetzt!”). Damit wurde symbolisiert, dass das Vertrauen in die herrschende Politik gänzlich verloren gegangen ist, dass man den Politikern von rechts und links nicht mehr zutraut, die Probleme des Landes zu lösen.

„Kein Wohlfahrtsstaat”

Auch in Israel gibt sich der Protest parteiunabhängig und findet auch ultraorthodoxe Juden in seinen Reihen. Die Studentenführer, die als Stimme der Bewegung gelten, erklärten wiederholt, ihr Ziel sei nicht der Sturz der konservativen Regierung von Benjamin Netanyahu. Gleichzeitig attackieren sie allerdings scharf die „neoliberale” Wirtschaftspolitik des Ministerpräsidenten. Auch wenn die Regierung Besserung der sozialen Lage verspricht, will sie keinen Deut vom Dogma des freien Marktes abweichen, wie am Donnerstag Netanyahus Kabinettschef Eyal Gabai betonte: „Diese Regierung wird keinen Wohlfahrtsstaat errichten”, meinte er.

Den fürsorglichen Staat haben Spanier und Griechen schon erlebt, von ihm ist in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht viel übrig geblieben. Die Demonstranten werfen der Politik vor, nur zugunsten von Banken und Wirtschaftsbossen tätig zu werden, die eigene Bevölkerung aber zu vernachlässigen.

„Der neue spanische Populismus von unten könnte ein Modell sein für den Widerstand gegen die Postdemokratie”, schrieb „Die Zeit” im Mai. Der Großteil der Bewegung hat sich im Sommer allerdings verlaufen. Nur noch rund 1000 Menschen wandten sich auf der Straße gegen die Räumung des Protestcamps auf der Puerta del Sol zugunsten des Papstbesuches. Auch in Griechenland ist von weiteren Protesten wenig zu hören.

Der Vorteil des Aufbegehrens gegen die Etablierten ist zugleich auch seine Schwäche: Seine spontane Entstehung, die den Bewegungen so viel Kraft verlieh, lässt sich nicht in die herkömmliche zähe Parteiendemokratie umsetzen. Darin ähnelt der Protest wiederum seinen arabischen Vorbildern, wo die Jugend bisher gleichfalls keine politische Programmatik formuliert hat. Der Frust allerdings bleibt.