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Die beinahe vollständige physische Vernichtung der Juden

Von Maram Stern

Gastkommentare
Maram Stern ist Vizepräsident des World Jewish Congress.  
© WJC

Der Holocaust wirkt bis heute demografisch nach.


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Vor wenigen Tagen habe ich mir in New York das Stück "Leopoldstadt" des britischen Dramatikers Tom Stoppard angesehen. Dem Programmheft war zu entnehmen, es handle von einer jüdischen Familie aus Wien, deren Schicksal vom Jahr 1899 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet würde. Damit war im Grunde genommen alles klar, oder zumindest wusste man nun, wie das Stück ausgehen würde. Solange der Dramatiker nicht eine unrealistische Kitschgeschichte erzählen wollte, war absehbar, dass eventuell einige Familienmitglieder ihr Leben durch Auswanderung retten, die übrigen aber dem Holocaust zum Opfer fallen würden. Wenig überraschend geschah genau das. In der letzten Szene unterhalten sich die drei einzigen Überlebenden der Katastrophe: zwei Exilanten, die rechtzeitig nach England und in die USA fliehen konnten, und ein jüngerer Mann, der als einziger seiner deportierten Verwandten durch unglaublich viel Glück die Todesmaschinerie von Auschwitz überlebt hat.

In den vergangenen Jahren ist die Diskussion über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung wieder aufgekommen. Ich möchte an dieser Stelle nicht in die wissenschaftliche Debatte der vergleichenden Genozidforschung einsteigen. Auch um das Verhältnis zwischen Kolonialismus und Shoah sowie eventuelle Zusammenhänge geht es mir nicht. Es geht mir lediglich um einige persönliche Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, während ich im Theater saß.

Hätte das Stück nicht von einer jüdischen Familie in Wien, sondern etwa von einer russischen in St. Petersburg gehandelt, wäre dem Zuschauer auch von der ersten Szene an klar gewesen, dass diese ein grausames Schicksal erwartete. In der Rückschau ein halbes Jahrhundert später hätte man auch in diesem Fall die historischen Narben besichtigen können. Zwei Weltkriege, Revolution, Bürgerkrieg und der Große Terror hätten wohl auch in eine solche Familie tiefe Lücken gerissen.

Es ging nicht um Terror, sondern um Ausrottung

Gleiches gilt, hätte das Stück eine armenische Familie aus dem Osmanischen Reich begleitet oder eine Familie aus Jugoslawien Anfang 1980er Jahre bis heute. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Aber nur im Fall einer jüdischen Familie im späteren Herrschaftsbereich des Dritten Reichs war der Ausgang so klar vorherzusehen. Denn nur hier war die physische Vernichtung beinahe vollständig. Die Nationalsozialisten hatten den erklärten Willen, alle Juden zu ermorden, und die Mittel, dieses Ziel zu erreichen.

Es ging nicht um Terror gegen einige, um alle einzuschüchtern. Es ging nicht um Vertreibung oder erzwungene Unterwerfung unter ein neues politisches Regime. Es ging um physische Vernichtung. Diese Absicht verfolgte das Dritte Reich mit großem Aufwand und allen einem großen Industriestaat zur Verfügung stehenden Mitteln, von Massenerschießungen bis zur logistisch anspruchsvollen Deportation von Millionen von Menschen aus ganz Europa in die Todesfabriken von Auschwitz oder Treblinka. Auch, als ab 1943 das Kriegsglück umschlug und Deutschland sich zunehmend in die Defensive gedrängt sah, änderte sich daran nichts. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Beendigung der Mordaktionen in Erwägung gezogen. Erst das Ende des Dritten Reichs und die Befreiung durch die Alliierten brachte das Ende der Vernichtung. Daher ist es eine Verhöhnung der Opfer, wenn die grüne Mediensprecherin Eva Blimlinger die Befreiung Wiens vom Nationalsozialismus mit dem angeblichen "Neuanfang" für die mit ihrer Hilfe eingestellte "Wiener Zeitung" gleichsetzt.

Auslöschung einer mehr als tausendjährigen Geschichte

Für die allermeisten Juden Europas kam das Ende des NS-Terrors zu spät. Zwei Drittel der jüdischen Vorkriegsbevölkerung waren dem Massenmord zum Opfer gefallen, in einigen Ländern lag der Anteil deutlich höher, in Litauen oder Jugoslawien beispielsweise bei mehr als 90 Prozent. Die größte jüdische Gemeinde des Kontinents, jene in Warschau, hatte de facto aufgehört zu existieren. Von den Überlebenden hatten sich viele der Vernichtung nur durch Auswanderung entziehen können, die mehr als tausendjährige Geschichte jüdischen Lebens in Europa war beinahe vollständig ausgelöscht worden.

Heute leben weltweit knapp 15 Millionen Juden, um 2 Millionen weniger als am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Auch acht Jahrzehnte später wirkt die Shoa demographisch nach, von den psychologischen Wunden, die wohl nie verheilen dürften, ganz zu schweigen. Letzteres gilt auch für diejenigen, die das Glück hatten zu überleben, und für ihre Nachfahren. Ich selbst bin das Kind zweier Holocaust-Überlebender. Meine Eltern stammten beide aus Polen und konnten der deutschen Vernichtungsmaschinerie durch eine unendliche Reihe glücklicher Zufälle entkommen. Beide waren sehr jung, als der Krieg begann, und beide sind erst vor wenigen Jahren im hohen Alter gestorben. Dennoch haben sie den Schatten der Shoa nie abschütteln können. Der Verlust der gesamten Familie, die nagende Frage, mit welcher Berechtigung ausgerechnet sie überlebt hatten, die ständige Angst vor einer Wiederholung der Katastrophe haben sie nie wieder losgelassen. Genauso wenig meinen Bruder und mich. Auch wenn unsere Eltern nie von den damaligen Geschehnissen sprachen, saß der Holocaust doch ständig bei uns beim Abendessen mit am Familientisch. Und er steht auch heute noch zwischen mir und nichtjüdischen Deutschen, so sehr ich auch das heutige Deutschland liebe und stolz bin auf das, was es trotz vieler Rückschritte bei der Aufarbeitung der Vergangenheit geleistet hat. Auch daran musste ich denken, als ich das Theaterstück ansah in Begleitung eines Deutschen ohne persönliche Verbindung zum Judentum. Und noch etwas anderes ging mir durch den Kopf: Während die Situation der jüdischen Familie im Verlauf des Stückes immer verzweifelter wurde, verstärkten sich auch ihre Anstrengungen, Österreich zu verlassen. Für die meisten war dies jedoch nicht mehr möglich, weil es schlicht keine Länder gab, die sie aufnehmen wollten. In die lange Liste der Staaten, die ihre Grenzen dem Zuzug jüdischer Flüchtlinge verschlossen hatten, gehörte auch das britische Mandatsgebiet in Palästina. Man muss kein Zionist sein, um in diesen Momenten verzweifelt zu wünschen, es hätte damals schon einen jüdischen Staat gegeben als sicheren Zufluchtsort für alle Juden.

Der Staat Israel als jüdische Lebensversicherung

Auch in diesem Fall hätten die Nationalsozialisten Millionen von Juden vernichtet, viele aber hätten gerettet werden können. Bei aller, teilweise berechtigten Kritik an der israelischen Politik, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der momentanen Entwicklungen dort, sollte man nie vergessen: Israel, das heuer den 75. Jahrestag seiner Staatsgründung feiert, ist und bleibt die Lebensversicherung für alle Juden weltweit. Denn leider war der Holocaust zwar einzigartig in seinem Ausmaß, er bildet aber nur den traurigen Höhepunkt in einer dreitausendjährigen Geschichte antijüdischer Gewalt. Und auch die Welt, in die ich nach Ende der Theaterausführung trat, ist zwar um ein Vielfaches besser als die auf der Bühne dargestellte, frei von Antisemitismus ist sie jedoch weiterhin nicht.