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Die belgische Wahl

Von Reinhard Göweil

Leitartikel

Normalerweise heißt es: "Stell dir vor, es sind Wahlen, und keiner geht hin." In Belgien hieß es bisher: "Stell dir vor, alle gehen wählen, aber den Politikern ist es wurscht." Das Königreich, das die wichtigsten EU-Institutionen in seiner Hauptstadt Brüssel beherbergt, ist nun Inhaber eines zweifelhaften Weltrekords: der bisher längsten Regierungskrise. Spitzenreiter war bisher der Irak.


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Am 13. Juni 2010 wählten die unter Wahlpflicht stehenden Belgier, seither ist jede Regierungsbildung gescheitert. Belgien hat zwar den "Vorteil", dass seine (auch sprachlich getrennten) Landesteile Flandern und Wallonie über starke Regionalvertretungen verfügen, gespenstisch bleibt es dennoch. Denn das Land selbst funktioniert. Keine Baustelle des im Vergleich zu Wien eher verwahrlosten Brüssel steht verlassen da, Züge fahren, die Müllabfuhr kommt.

Das Beispiel Belgien zeigt zweierlei, und beides ist wenig erbaulich. Erstens: Die Bedeutung von Wahlen wird generell überschätzt. Das klingt nach Selbstaufgabe eines demokratischen Grundrechts.

Zweitens: Das "Europa der Regionen" ist stärker, als bisher alle dachten. Europa zerfällt (auch) in 271 definierte Regionen. Die offensichtlich funktionieren, wenn der darüber liegende Bundesstaat gerade keine handlungsfähige Regierung hat. Belgien ist das lebende Beispiel, dass die Wallonie und Flandern auch ohne Bund leben. Das ist fürs tägliche Leben tröstlich, politisch ebenfalls schwierig.

Die Regierungschefs, die in der EU gerade alle Macht an sich ziehen, können daraus ersehen, dass es eigentlich ohne sie auch geht. Die Aussicht, dass 271 Regionalchefs die EU-Beschlüsse treffen könnten, lässt freilich schaudern. Da ist sogar der lahm agierende EU-Rat vorzuziehen.

Wie man es dreht und wendet: Das Beispiel Belgien mag manche zum Schmunzeln verleiten, und eine gewisse Lächerlichkeit ist der Situation nicht abzusprechen. Demokratiepolitisch ist Belgien für Europa ein Desaster. Gemeinsam mit den Autokraten in Italien und in Budapest sowie den mitregierenden extremen Parteien in Dänemark und den Niederlanden zeigt das Königreich, dass die demokratische Schicht auch in der EU eher dünn ist. Und offensichtlich nicht dicker wird.