Um die Gewaltspirale gegen Frauen zu beenden, müssten endlich mehr Männer aufstehen.
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Wenn die Fälle von Gewalt gegen Frauen medienwirksam kumulieren, herrscht allseits tiefe Betroffenheit: Mit Bedauern verweisen Medien und politisch Verantwortliche auf kulturelle Milieus und "neue" Aktionen, die Polizei auf die schwierige gesetzliche Lage und die in der Gewaltprävention und im Opferschutz tätigen NGOs auf zu geringe Budgetmittel.
Von Gewalt betroffene Frauen verlieren ihre Gesundheit, ihr Selbstbewusstsein, ihr Vertrauen ins eigene Können und in die Welt und manchmal sogar ihr Leben. Und sie sind nicht die einzigen Betroffenen. Dieser Kreis geht weit über die einzelne Frau hinaus: Jede ermordete Mutter hinterlässt Kinder, viele von ihnen Söhne. Jede vergewaltigte Frau hat Eltern und Geschwister, viele von ihnen männlich, die den körperlichen und seelischen Schmerz miterleben müssen und manchmal selbst daran zerbrechen. Jede geschlagene Frau hat Nachbarn, Kollegen, Freunde, die die Spuren der Gewalt sehen und die Auswirkungen auf die Lebensgestaltung der Frau und ihrer Familie beobachten.
Wir alle sind von Gewalt an Frauen betroffene Zuschauer - aus nächster Nähe und/oder durch die Medien inklusive Soziale Netzwerke.
So werden wir Zeugen des Erschlagens von Frauen, der Diffamierung und des Sich-lustig-Machens über die - teilweise aufgrund mangelnder gesetzlicher Handhabe - Hilflosigkeit und Ohnmacht der Frauen. Sigrid Maurer ist dafür nur ein Beispiel von vielen. Denn auch körperliche Notwehr muss erst einmal vor Gericht bewiesen werden können. Zwei unterschwellige Botschaften werden mit jedem Fall gesendet. Die Frauen lernen: "Sei vorsichtig, reize nicht, du bezahlst für dein ‚Fehlverhalten‘, du bist und bleibst die Unterlegene, unabhängig von deiner sozialen Stellung!" Und die Männer erfahren: "Deine körperliche Stärke gibt dir Rechte, deine Wut kann berechtigt sein und gibt dir Milderungsgründe."
Selbstbestimmtes Verhalten von Frauen muss in der Familie und im Beruf eine Selbstverständlichkeit werden. Und jeder Mann muss befähigt werden, seiner Aggression selbst Herr zu werden. Beides ist in Österreich nicht verwirklicht und nicht nur eine Frage bestimmter Milieus. Es braucht flächendeckende Unterstützungsmaßnahmen hinsichtlich einer frauenrespektvollen Werthaltung und Gleichstellung in der Gesellschaft. Solange Frauen und ihre Potenziale nicht als wertvoll für alle gesehen werden, gilt das Betroffenheitsgefühl nur dem Ereignis, aber nicht der Veränderung.
Die Politik ist im Sinne eines nationalen Schulterschlusses gefordert, parteienübergreifend in all ihren Einflussbereichen für einen Wandel zu sorgen. Zusätzlich brauchen wir mehr betroffene Männer, die aufstehen und vom Schmerz berichten, den die Zerstörung eines Frauenlebens in ihrer Umgebung ausgelöst hat. Wir brauchen mehr Männer, die von einem positiven Leben mit einer starken Frau erzählen. Und wir brauchen mehr Männer, die öffentlichkeitswirksam berichten, was eine gleichgestellte Frau an neuen Handlungsoptionen für ein Männerleben - als Vater, Partner, Sohn - bedeutet. Erweitern wir gemeinsam die Betroffenheitserzählung, um die Gewaltspirale zu beenden.