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Es ist Zeit für entschlossenes politisches Handeln.
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Erbitterte Kämpfe in der Ukraine. Eine sich verschärfende globale Schuldenkrise in den ärmsten Ländern der Welt. Steigende Preise überall, angeheizt durch Russlands Aggression gegen die Ukraine und durch die Ausfälle und Verwerfungen durch die Corona-Pandemie. Eine sich zuspitzende Klimakrise.
Man könnte meinen, die internationale Gemeinschaft hätte im vergangenen Jahrzehnt geschlafen. Der Aufschwung des Populismus, angeheizt durch wachsende Ungleichheit und von neuen Technologien verbreitete Desinformation, hat bei vielen die Zuversicht in die Möglichkeit kollektiven Handelns erschüttert. Möglicherweise lassen sich die Menschen angesichts eines aus den Fugen geratenen Info-Ökosystems nicht länger davon überzeugen, jene politischen Maßnahmen mitzutragen, die die Welt verbessern könnten.
Doch in dieser augenscheinlichen Katastrophenspirale gibt es einen Lichtblick. Die Ergebnisse einer der größten jemals durchgeführten weltweiten Meinungsumfragen wurden vor kurzem veröffentlicht: Menschen in 22 sehr unterschiedlichen Ländern wurden befragt, und dabei wird deutlich, dass die Bevölkerung ihren Regierenden voraus ist und ambitionierten globalen Lösungen viel aufgeschlossener gegenübersteht, als dies die Regierungen zu glauben scheinen. Allerdings sind sie mit der Bilanz der internationalen Gemeinschaft sehr unzufrieden. Zum Beispiel bewerten gerade einmal 36 Prozent der Befragten die Reaktion der Vereinten Nationen auf die Invasion in der Ukraine als "ziemlich" oder "sehr gut".
Im Rahmen der Erhebung wurden mehr als 21.000 Menschen in 22 Ländern zu ihrem eigenen Leben, ihren Ansichten über globale Bedrohungen und deren Bewältigung befragt. Es handelt sich um eine umfassende Momentaufnahme der globalen Meinungslage, da mehr als zwei Drittel der Befragten in Afrika, Lateinamerika, Asien und dem Nahen Osten leben, während zugleich auch die Mehrheit aller G20-Mitgliedstaaten erfasst wurde.
Einigkeit über die größten Herausforderungen
Entgegen den Berichten über eine gespaltene Welt herrscht allgemein Einigkeit über die größten Herausforderungen für die Menschheit. Die größte Beunruhigung löst der Klimawandel aus, gefolgt von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Auch die steigenden Preise bereiten vielen Sorgen: Fast drei Viertel der Befragten sehen eine weltweite Nahrungsmittelknappheit. Im Hinblick auf ihr eigenes Leben sind die Menschen allerdings überraschend optimistisch: Die überwiegende Mehrheit (55 Prozent) sieht sich selbst auf dem richtigen Weg.
In krassem Gegensatz dazu vertritt weniger als ein Fünftel die Ansicht, dass sich die Welt in die richtige Richtung bewegt. Überall zeigt sich ein ausgeprägter Pessimismus in Bezug auf die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die vielfältigen, ineinandergreifenden Krisen von heute zu bewältigen.
Am auffälligsten sind die Reaktionen auf eine Reihe internationalistischer politischer Konzepte, von denen viele noch keinen Eingang in die internationale Debatte gefunden haben, denn viele Politiker vermeiden Vorschläge, die als radikal angesehen werden könnten, wenngleich radikale Maßnahmen notwendig sind. Das verbreitete Stereotyp, dass die Bevölkerung überall zu Nationalismus und Engstirnigkeit tendiert, gerät ins Wanken, wenn den Menschen ehrgeizige Problemlösungen aufgezeigt werden.
Auf die Frage nach der Option eines Schuldenerlasses für die ärmsten Länder der Welt und einer Senkung der Schuldenlast für andere Staaten äußerten sich mehr als zwei Drittel (72 Prozent) der Befragten befürwortend. Erwartungsgemäß ist die Begeisterung für einen Schuldenerlass in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die die Hauptbegünstigten wären, größer. Doch auch nach Jahren einer "Make America Great Again"-Politik in den USA und dem Erstarken populistischer Parteien in Westeuropa findet sich auch hier noch immer eine überwiegende Mehrheit für einen Schuldenerlass (56 beziehungsweise 57 Prozent), die damit die Gegenstimmen um 27 beziehungsweise 29 Prozentpunkte übertreffen.
Reiche Länder sollen Klimaschäden mildern
In drei westeuropäischen Ländern befürworten 58 Prozent der Befragten einen Vorschlag, demzufolge reichere Länder im nächsten Jahr 2 Prozent ihrer Budgetmittel als globale Solidaritätsfinanzierung zum Schutz der Schwächsten in der Welt beitragen würden. In Frankreich, wo die "Gelbwesten"-Bewegung gegen "Globalismus" protestiert, sind es 65 Prozent. Selbst in den USA, wo dies als politischer Suizid empfunden werden könnte, sprechen sich 53 Prozent dafür aus.
Diese Bereitschaft, fortschrittliche politische Vorschläge zu befürworten, zeigt sich auch bei den mit der Klimakrise verbundenen Fragen. 75 Prozent aller Befragten stimmen zu, dass die reicheren Länder "die Initiative für einen globalen Versicherungsfonds zum Schutz vor den weltweiten Auswirkungen des Klimawandels ergreifen" sollten. Und 77 Prozent teilen die Ansicht, reiche Länder sollten "viel mehr Geld zusagen, um die durch die weltweiten Auswirkungen des Klimawandels verursachten Verluste und Schäden zu decken". In Westeuropa sprechen sich zwei Drittel der Befragten für diese beiden Vorschläge aus, und selbst in den USA ist es immerhin die Hälfte.
Als beliebtester politischer Vorschlag hat sich interessanterweise das Konzept erwiesen, "ein Krisenreaktionsteam für die Welt zu schaffen, sodass im Fall einer Krise Regierungen, Unternehmen, Wohlfahrtsverbände, die Wissenschaft und andere Teile der Gesellschaft gemeinsam schnell einen Aktionsplan ausarbeiten können". Nur 10 Prozent der Befragten lehnten diesen Vorschlag ab, 80 Prozent hingegen sind dafür - ein eindringlicher Beweis, dass der Idealismus der Globalisten in so vielen verschiedenen Ländern ungebrochen ist, trotz der allgegenwärtigen bedrückten Stimmungslage.
Ambitionierte und visionäre Ansätze überzeugen überall
Natürlich handelt es sich hier nur um eine Umfrage, wenngleich mit für das jeweilige Land repräsentativ ausgewählten Befragten. Die Konzepte, die damit verbundenen Kosten und die möglichen Kompromisse wurden nicht eingehend erläutert, sondern eher als Möglichkeiten in den Raum gestellt. Sie waren nicht jahrelang der Verunglimpfung durch gut finanzierte Negativwerbung ausgesetzt. Es wird jedoch deutlich, dass die Bevölkerung überall davon überzeugt werden könnte, ambitionierte und visionäre Ansätze zu unterstützen, wenn die politische Führung einen Weg findet, diese Strategien zu vermitteln.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lancierte der US-Außenminister George Marshall einen Plan zum Wiederaufbau der Wirtschaft europäischer Staaten, die durch die Kriegshandlungen schwer geschädigt worden waren - eine Maßnahme, die 2 Prozent des damaligen US-Budgets in Anspruch nahm. Marshall erkannte die Dringlichkeit des Problems - und zeigte sich ihm gewachsen, indem er durchs ganze Land reiste, um politische Unterstützung für seine Vision zu gewinnen. Heute bleibt die internationale Reaktion kleinteilig. Bei der kürzlich stattgefundenen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York standen viele dieser Möglichkeiten nicht auf der globalen Agenda. Mit Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Umfrage muss man die Frage stellen: Warum nicht?