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Ausstellung zum rätselhaften Relikt des Turiner Grabtuchs in Wien: Niemand weiß, wie das Bild auf dem Stoff entstand.
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Ein Dutzend Journalisten inspiziert das hinterleuchtete Exponat hinter Glas. Ob die Kopie den selben Effekt hat wie das Original, man ein Gefühl bekommt, als würde ein Gesicht aus dem Stoff hervortreten, als würde Christus einem sozusagen erscheinen? Die vom Vatikan "autorisierte originalgetreue Kopie" des Turiner Grabtuchs gibt diesbezüglich wenig preis. Zu sehen ist der Fotodruck des wohl berühmtesten Stück Stoffs der Welt mit einem schattenhaften Doppel-Abdruck der Vorder- und Rückseite eines 1,78 Meter großen Mannes mit langen Haaren, Schnurr- und Backenbart, Dornenhaube, Spuren von Folterung, Blutflecken und Brandlöchern.
Bis heute kann niemand mit Sicherheit sagen, wie alt das 4,36 mal 1,10 Meter große Grabtuch ist, woher es stammt und wen es tatsächlich zeigt. Viele Christen glauben, der Leichnam Christi wurde in das Tuch gewickelt, bevor dieser auferstand. Viele Wissenschafter gehen hingegen davon aus, dass zumindest Teile des Stoffs im Mittelalter gewebt wurden und erforschen, wie das menschliche Abbild auf das Tuch kam.
Die bis 16. Juli in Wien gastierende, vom Malteserorden und dem Erzbistum Köln konzipierte Wanderausstellung "Wer ist der Mann auf dem Tuch? - Eine Spurensuche" geht den Weg der religiösen Interpretation. "Wir wollen nicht klarstellen, was wissenschaftlich beweisbar ist, sondern einen mystischen Bogen spannen zwischen historischen Überlegungen, Nachweisen und der Möglichkeit, dass Jesus Christus als Mensch gelitten hat und für uns gestorben ist", erklärte der Delegat des Malteserordens in Wien, Christoph Calice, im Vorfeld der Eröffnung am Donnerstag: "Und dieses Tuch ist eine wunderbare Hilfe für diese Auseinandersetzung - nicht zwingend um Antworten zu finden, sondern um sich Fragen zu stellen."
Markt für Reliquien
Einige wissenschaftliche Antworten zu dem Stoff gibt die Schau aber doch. Kernstücke sind die Kopie des Tuches und eine Skulptur Jesu, die der italienische Bildhauer Luigi Mattei anhand der Abdrücke auf dem Grabtuch geschaffen haben will. Auch weitere Stücke, wie die Replik einer Dornenhaube oder Nägel, wie sie vor rund 2000 Jahren bei Kreuzigungen verwendet wurden, sind zu sehen. Am interessantesten sind jedoch die kurzen Wandtexte zu historischen Hintergründen und wissenschaftlichen Ergebnissen.
Den Evangelien zufolge wurde Jesus von den Römern gekreuzigt, sein Körper vom Kreuz genommen und in ein Grabtuch gehüllt, das später verwahrt wurde. Lange blieb es verschwunden. Erst im 14. Jahrhundert tauchte es als Leichentuch von Jesus Christus in der französischen Stadt Lirey wieder auf. In einer Zeit der Hungersnöte und Seuchen ließen Furcht und Aberglauben einen Markt für religiöse Reliquien entstehen - es gab viele Grabtücher, angeblich alle von Christus. Doch das Turiner Grabtuch zeigte erstaunlich detailreich das schwache Abbild eines Mannes. 1453 ging es in den Besitz des Hauses Savoyen über, die es auf Reisen mitführten und den Gläubigen in ihrem Hoheitsgebiet in Norditalien zeigten.
Negativ ist Positiv
1532 wurde das Grabtuch bei einem Brand fast zerstört, Wasser hinterließ Flecken. Nonnen stopften das malträtierte Stück Stoff. 1548 wurde es an seinen aktuellen Aufbewahrungsort in Turin gebracht. Erst der ItalienerSecondo Pia machte das Grabtuch berühmt, als er es 1898 fotografierte und dabei feststellte, dass Negativ Positiv war: Helle und dunkle Teile erschienen auf dem Grabtuch ganz genau umgekehrt. Indem Pia die Belichtung in seiner Dunkelkammer umdrehte, wurden Gesicht und Körper plötzlich erstmals als Positiv-Bild sichtbar - und das Leichentuch wurde weltberühmt.
Die Fotos wurden Forschern zugänglich gemacht. Im Laufe des 20. Jahrhunderts schufen sie mit einem 3D-Verfahren zur Analyse von Luftaufnahmen namens VP8 ein 3D-Relief des Gesichts eines Mannes. Es entstanden realitätsnahe Höhen und Tiefen von Nase, Wangen und Haaren, während - wie eine "Arte"-Doku sichtbar macht - die 3D-Bilder von anderen Fotos verzerrt aussehen.
1978 stimmte die Kirche zu, das Original wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Von Carabinieri bewacht, machten Forscher vier Tage lang im Turiner Dom rund um die Uhr Dienst: Spektralanalysen, UV-Fluoreszenzfotos und Röntgen-Aufnahmen sollten klären, ob das Bild mit Farbe oder andersartig auf das Tuch aufgetragen wurde. Der Chemiker und leitende Wissenschafter Ray Rogers, Experte für die Auswirkungen von Hitze auf Materialien, konnte keine Farbmaterialien auf dem Stoff finden. Überraschenderweise hatte zudem das Wasser, mit dem man den Brand von 1532 Schaden zu löschen versucht hatte, laut Rogers nichts von dem Bild entfernt.
Trotz dieser mysteriösen Konservierung halten die meisten Forscher die Idee, das Tuch habe den Leichnam Jesu eingehüllt, für eine fromme Vermutung. Zu präzise sei der sichtbare Abdruck - und vor allem zu schmal. Ein Kontaktabdruck eines Körpers auf ein Stück Stoff wäre verzerrt - ähnlich wie eine zweidimensionale Landkarte nur ein verzerrtes Bild der Erde liefert, argumentieren viele Experten. Allerdings gilt mittlerweile auch als sicher, dass der abgebildete Körper nicht aufgemalt wurde.
Um das Alter des Tuches festzustellen, haben drei Teams aus der Schweiz, Großbritannien und den USA in unabhängigen Radiokarbon-Analysen 1988 einen mehrere Zentimeter großen Abschnitt des Stoffs untersucht. Als Ursprungsjahr entpuppte sich die Zeit von 1260 und 1390 - das Turiner Grabtuch wurde zur Fälschung erklärt.
Inzwischen wurde diese Datierung wieder infrage gestellt. Laut Turiner Forschern spricht ein Münzabdruck über dem rechten Auge dafür, dass das Tuch doch älter ist, da die Münze zur Zeit des römischen Statthalters Pontius Pilatus geprägt wurde. Zudem wurden Spuren von 58 Arten von Pollen und 30 Abdrücke von Pflanzen entdeckt, die damals ausschließlich im Nahen Osten existierten.
Klarheit durch weitere Tests
Klarheit könnten nur weitere Tests schaffen. "Bei den Radiokarbon-Datierungen wurden Stellen vom Rande des Tuchs untersucht, die jüngeren Ursprungs sind. Um klar sagen zu können, ob es aus dem ersten Jahrhundert stammt, müsste man einen Faden aus der Mitte entnehmen und mit moderneren Methoden untersuchen", so Karina Grömer, Expertin für Textile Archäologie am Naturhistorischen Museum Wien. Heute bräuchte man nur wenige Milligramm für viel präzisere Radiokarbon-Ergebnisse. Zum letzten Mal wurde das Tuch allerdings 2003 für Forschung freigegeben.
2015 publizierte ein US-Team DNA-Analysen an früheren Proben und fand dabei Zellfragmente und Blut-Partikel im Tuch entdeckt. "Allerdings könnten die Partikel von jedem sein. Selbst wenn das Tuch konservatorisch gut behandelt wurde, wurde es als Reliquie von allen möglichen Menschen berührt, präsentiert, hochgehalten, mit Weihrauch besprenkelt und sogar nach Konstantinopel gebracht. DNA aus Schweiß, Nasenbluten - das alles hat nichts mit Authentizität zu tun", sagt Grömer.
Bettina von Trott zu Solz lässt sich davon nicht beeindrucken. Für sie ist die Sache eindeutig. Als Ausstellungskuratorin rechnet sie mit Besuchern, die "vom Glauben angeregt sind" sagt sie. Und bringt auf den Punkt, was zu glauben ist: "Der Mann auf dem Tuch ist ein gekreuzigter Mensch, und wir wissen, dass die Römer viele Menschen gekreuzigt haben. Aber wir haben sonst keinen Menschen, der mit einer Dornenhaube gekreuzigt wurde - das war der Spott, den man nur Jesus hat angedeihen lassen, und auf dem Grabtuch sieht man sehr deutlich die Blutwunden um das Haupt." Und somit wären alle Zweifel beseitigt. Oder?