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Gesagt, getan: Einen Tag nach seiner Rede zur Lage der Nation hat Russlands Präsident Dmitri Medwedew die darin angekündigten Reformschritte bereits in der Duma eingebracht. Ob er damit einen Coup gelandet und den für Samstag geplanten neuen Massendemonstrationen Wind aus den Segeln genommen hat, bleibt abzuwarten. Der Forderung der Demonstranten nach einer Wiederholung der wegen Fälschungsvorwürfen umstrittenen Wahlen wurde schließlich nicht entsprochen. Und auch für die noch weit wichtigeren Präsidentenwahlen im März ist der Zug schon abgefahren: Die Anmeldefristen dazu sind bereits verstrichen.
Die Wut der Protestler richtet sich aber ohnedies auf die jetzige Situation. Beobachter schreiben davon, dass "Putins Gesellschaftsvertrag" in Gefahr sei, vom Volk aufgekündigt zu werden - also jenes System, in dem die Eliten mit einem Teil der Energieeinnahmen das Volk alimentieren, das dafür auf politische Mitbestimmung weitgehend verzichtet. In den vergangenen Monaten hatte die stille Übereinkunft Risse bekommen: Zunächst waren die Beliebtheitswerte Putins und Medwedews spürbar abgesackt, dann entlud sich der Unmut auf der Straße.
Der Protest gegen Putin sollte jedoch nicht zur Ansicht verführen, die Reihen der Demonstranten bestünden nur aus lupenreinen Demokraten oder gar liberalen Menschenrechtlern. In der Person des populären Bloggers Alexej Nawalny, der gleichzeitig Transparenz predigt und gegen Minderheiten hetzt, kommt das Janusgesicht mancher Protestler zum Ausdruck. Der Wille, die Politik des Landes endlich selbst gestalten zu wollen, mischt sich mit Vorstellungen aus der historischen Mottenkiste: Es ist typisch für Russland, dass beispielsweise ausgerechnet die radikalen Nationalbolschewiken, ein prominenter Teil des im Westen hoch gelobten Parteienbündnisses "Das andere Russland" von Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow, für Grundwerte wie Versammlungsfreiheit eintreten. Ihre Flagge erinnert an die der NSDAP, nur dass statt des Hakenkreuzes Hammer und Sichel eingefügt sind; ihre Ideologie zielte jedenfalls in den 1990er-Jahren noch auf den "einäschernden Hass" gegen "die inhumane Trioka aus Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus" und ein russisches Imperium von Gibraltar bis Wladiwostok. Gewiss sind solche Gruppen nicht repräsentativ für die Proteste in ihrer Gesamtheit, Bilder eines Fahnenmeers nationalistischer und sowjetnostalgischer Prägung - etwa mit dem Konterfei Stalins - zeigen allerdings, dass mitten im demokratischen Aufbruch Russlands auch die Ungeister aus Dostojewskis "Dämonen" noch kräftig spuken.