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Die Bibel der Verdinglichung

Von Jens Kastner

Reflexionen
Zeitlebens ein einflussreicher Sozialphilosoph: Georg Lukács, hier 1970.
© ullstein bild / Karoly Forgacs

Vor 100 Jahren vollendete Georg Lukács in Wien sein Werk "Geschichte und Klassenbewusstsein".


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Ganz in der Nähe der Endstation der heutigen U4, dem Bahnhof Wien Hütteldorf, liegt die Isbarygasse. Hier am Stadtrand steht auch das Stadion von Rapid Wien, es mischen sich Ein- und Mehrfamilienhäuser mit Villen aus dem 19. Jahrhundert. Eine solche Villa steht in der Isbarygasse 12, von den oberen Stockwerken aus dürfte man freien Blick auf den beginnenden Wienerwald haben.

Hier hat Georg Lukács (1885-1971) sein Buch "Geschichte und Klassenbewusstsein" geschrieben. Es ist das vielleicht bekannteste Werk des Philosophen und eine der einflussreichsten Schriften dessen, was später "Neomarxismus" genannt werden sollte. Lukács war 1919 nach Wien gekommen. Wie er selbst schrieb, leitete das Wiener Exil nach der ungarischen Räterepublik für ihn eine "Periode des Lernens" ein. Er studierte Lenin.

Ein Exemplar der großen Studie aus dem Jahr 1967.
© Archiv

Diese Selbstauskunft ist interessant, scheint sie doch dem Effekt, den das zu Weihnachten 1922 abgeschlossene und 1923 veröffentlichte Manuskript theoriegeschichtlich hatte, geradezu entgegenzustehen. Denn das Neue an jenen Marxismen, die sich im Anschluss an die im Westen gescheiterten Revolutionen entwickelten - also im Wesentlichen jene Ansätze, die später unter "Kritische Theorie" rubriziert wurden -, besteht ja gerade in der Abkehr vom Avantgarde- und Organisationsmodell Lenins. Sei die Abwendung explizit wie bei Horkheimer, Adorno und anderen Protagonisten der Kritischen Theorie oder, wie beim italienischen Marxisten Antonio Gramsci und bei Lukács selbst, implizit erfolgt. Man fragt sich also, wie das zusammengeht: vertiefende Lenin-Lektüre einerseits und die Entwicklung des Neomarxismus andererseits.

Prinzip Rationalisierung

Lukács hatte nicht vor, den Leninismus hinter sich zu lassen. Er betont ganz in dessen Sinne, dass der Prozess der Vorbereitung revolutionärer Transformation nicht nur entscheidend für diese sei, sondern auch notwendigerweise organisiert werden müsse - seinerzeit ein eindeutiges Plädoyer für die kommunistische Avantgardepartei. Allerdings hebt Lukács auch hervor, dass ein solcher Prozess von dem behindert wird, was er "Verdinglichung" nennt.

Damit meint er, dass die kapitalistische Warenwirtschaft nicht nur die gehandelten Produkte und die Produktionsverhältnisse betrifft, sondern dass sie zudem tief in die sozialen Beziehungen eingedrungen ist. Alles wird dem Prinzip der "auf Kalkulierbarbeit eingestellten Rationalisierung" unterworfen. Diese Unterwerfung, die Verdinglichung findet auf drei Ebenen statt: Sie betrifft das Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen, zu anderen Menschen und schließlich zu sich selbst und den eigenen Gefühlen und Kompetenzen.

Georg Lukács 1952.
© Bundesarchiv, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Der Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft steht der sozialen Wirklichkeit als "einer ihm wesensfremden ‚Natur‘ gegenüber", schreibt Lukács, und ist ihr damit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sein Handeln folgt nur mehr den verdinglichten und verdinglichenden Gesetzen des Kapitals. Auch wenn er dabei sein individuelles Einzelinteresse verfolgt, bleibe er "Objekt und nicht Subjekt des Geschehens". Der vorbereitende Prozess für die gesellschaftliche Transformation ist also nicht nur eine ökonomische Aufgabe, sondern auch als "Schritt in die Richtung des Durchbrechens dieser Verdinglichung" zu begreifen und anzugehen. Dieser Gedanke könnte als der neomarxistische Clou der Schrift bezeichnet werden: Nicht mehr nur die Überwindung der Ausbeutung als zentrales Problem der Kritik der politischen Ökonomie zu betrachten, sondern darüber hinaus die Abschaffung der zur Verdinglichung gesteigerten Entfremdung.

Orthodoxe Kritik

Diese, wenn man so will, ideologiekritische Wendung war es, die den Autor von "Geschichte und Klassenbewusstsein" zu einem Erneuerer der marxistischen Theorie und zum Inspirator der Kritischen Theorie machte. Auf Seiten der marxistisch-leninistischen Orthodoxie wurde das auch gleich erkannt und stark kritisiert. Der damals einflussreiche sowjetische Philosoph Abram Deborin etwa verurteilte Lukács’ Buch 1924 wegen der "idealistischen Tendenzen". Für die neomarxistischen Strömungen aber wurde es ein Buch mit "epochalen Gedanken", wie Ernst Bloch schon 1923 schrieb.

Der Begriff der Verdinglichung wurde über Jahrzehnte zu einem Dreh- und Angelpunkt kritischen Denkens in der Mitte des 20. Jahrhunderts, geriet dann aber ins sozialtheoretische Hintertreffen. In der "Dialektik der Aufklärung" (1944) hatten sich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer des Begriffs bedient, um ihre Zeitdiagnose zu untermauern. "Die Verdinglichung, kraft deren die einzig durch die Passivität der Massen ermöglichte Machtstruktur diesen selbst als eiserne Wirklichkeit entgegentritt", schrieben sie, "ist so dicht geworden, daß jede Spontaneität, ja die bloße Vorstellung vom wahren Sachverhalt notwendig zur verstiegenen Utopie, zum abwegigen Sektierertum geworden ist."

Rund zwanzig Jahre später distanzierte sich Adorno von der zeitdiagnostischen Nützlichkeit des Begriffs. Das "Lamento über die Verdinglichung", schreibt er in "Negative Dialektik" (1966), gleite mittlerweile eher über das hinweg, worunter die Menschen leiden, anstatt es zu denunzieren.

Dass die Verdinglichung nicht mehr im Vordergrund kritischer Theorie stand und die Idee des "falschen Bewusstseins", das durch sie ausgelöst würde, linken Sozialtheoretikern wie Pierre Bourdieu sogar als "bizarre Vorstellung" erschien, hatte vor allem zwei Gründe. Die These, dass Menschen sich und anderen unter dem Gesetz des Tauschwerts nur noch wie Sachen behandeln und jede Rationalität instrumentell geworden ist, scheint erstens immer zu implizieren, dass es jenseits von dieser kapitalistischen Zurichtung eine gewissermaßen ursprüngliche, natürliche und gute Beziehungsweise gäbe. Auch Adorno hatte in diesem Sinne gegenüber Lukács schon vor der "Verklärung vergangener Zustände" gewarnt.

Zweitens legt die Vorstellung der Verdinglichung bei Lukács nahe, dass das kollektive Bewusstsein und der Stand der Produktivkraftentwicklung direkt aneinandergekoppelt sind. Als würde sich die kollektive Wahrnehmung der Welt nur auf eine ganz bestimmte und zudem objektiv zu bestimmende Art und Weise vollziehen.

Dogmatiker

Lukács selbst war ein geradezu dogmatischer Vertreter eines solchen Objektivismus. Gegen die Verdinglichung helfe nur die Selbsterkenntnis des Proletariats, denn nur sie ermögliche die "objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft". Sie setze mit der Erkenntnis über die geschichtliche Lage des Proletariats und dem "Aufzeigen ihrer Notwendigkeit" ein. Die "Selbstenthüllung der auf Warenproduktion, auf Warenverkehr fundierten kapitalistischen Gesellschaft" geschehe einzig und allein dadurch, dass der Arbeiter "sich selbst und seine eigenen Beziehungen zum Kapital in der Ware" erkenne.

Klassenbewusstsein wird zum Gegenbegriff eines Verständnisses von Verdinglichung, das drei Ebenen miteinander verknüpft: Passivität in gesellschaftspolitischer Hinsicht, Ausgeliefertsein an objektive Bedingungen hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeit, und Empathielosigkeit anderen gegenüber. So eng, wie von Lukács konzipiert, gehen diese Prozesse in der sozialen Wirklichkeit aber wohl selten miteinander einher.

Der Lukács’schen Engführung wird daher in der neueren Diskussion um die Verdinglichung be- und entgegnet. Angestoßen wurde sie 2005 von einer Vorlesungsreihe des deutschen Sozialphilosophen Axel Honneth. In dieser Debatte hat auch die US-amerikanische Philosophin Judith Butler Lukács vorgeworfen, einerseits einem Verständnis von Verdinglichung als "teilnahmsloser Beobachtung" das Wort zu reden, die andererseits nur mit den produktiven Fähigkeiten des "menschlichen Willens" bekämpft werden könne. Weder die Annahme totaler Passivität noch die politische Hoffnung auf die Kraft des Willens erscheinen Butler dabei überzeugend.

Honneth hat zunächst einmal die drei Ebenen der verdinglichten Beziehungen - zu Gegenständen, zu anderen Menschen, zu sich selbst - stärker unterschieden. Sie müssen demnach nicht miteinander einhergehen und haben auch unterschiedliche Effekte. Während es der Reproduktion des Sozialen durchaus dienlich sein kann, natürliche Gegebenheiten zu verdinglichen, trifft das auf eine "vedinglichende Einstellung" anderen gegenüber nicht zu. Ob es, wie Honneth meint, den Bezug auf eine vor jeder Entfremdung liegende Anerkennung braucht, um solche Haltungen zu bekämpfen, ist jedenfalls umstritten.

Aktuelle Diskussion

Auch in einer aktuellen Studie der Philosophin Eva von Redecker wird auf den Verdinglichungsbegriff von Lukács Bezug genommen. In "Revolution für das Leben" wendet von Redecker den Begriff auf die Geschlechterverhältnisse an, die von Lukács völlig ignoriert worden waren. Sie erkennt in der feministischen NiUnaMenos-Bewegung einen Kampf "gegen die Verdinglichung" von Frauen als schutzbedürftige Opfer, von Frauen als Sachen.

Auch in der Bewegung für Klimagerechtigkeit wehrt man sich gegen eine Verdinglichung von Mensch und Natur. Die Verdinglichung wird hier nicht als totales Ganzes betrachtet, sondern als Tendenz und Prozess, den die kapitalistische Vergesellschaftung mit sich bringt. So verwendet, ist der Begriff für Gegenwartsphänomene durchaus noch anwendbar. Nicht zuletzt die Kämpfe emanzipatorischer sozialer Bewegungen, wie sie nicht nur bei von Redecker diskutiert werden, weisen darauf hin. Bis heute hallt also deutlich nach, was ein kosmopolitischer Intellektueller und kommunistischer Parteikader einst aus seinem Lenin-Studium in Wien extrahiert hatte.

In Wien allerdings, wo eine Erinnerungstafel unvergessen lässt, dass Kaiserin Elisabeth vom Kahlenberg aus einmal "große Umschau" hielt und selbst Stalin mit einem Schild geehrt wird zum Gedenken daran, dass er hier einst "Marxismus und nationale Frage" schrieb, hat es für Lukács nicht gereicht. Man kann sich an das Lukács-Archiv in Budapest wenden, das trotz Schließung durch die Regierung Orban weiterbesteht und freundlich Auskunft gibt. Einen Hinweis auf den ehemaligen Bewohner und seine wegweisende Arbeit sucht man am Haus in der Isbarygasse jedenfalls vergebens.

Jens Kastner, geboren 1970, Soziologe und Kunsthistoriker, lebt als freier Autor und Dozent in Wien.