Biomimetics | Symposion 2012: Veränderte Strukturen könnten Energie sparen.
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Ein Gecko läuft die Decke entlang. Es haftet, ohne kleben zu bleiben. Wie macht es das? Und wodurch erklärt sich der schimmernde Glanz von Perlmutt - eine Muschel 3000 Mal so hart wie der Kalk, aus dem sie besteht? Und wäre ein Hochhaus mit einer Belüftungsanlage nach dem Prinzip eines Termitenhügels besonders energiesparend?
Mit Antworten auf solche und ähnliche Fragen befassen sich Biomimetiker. Sie suchen Inspiration in der Natur, um Innovationsprozesse abzukürzen und gleichzeitig einem Bedarf an immer komplexeren Erfindungen gerecht zu werden. "In bestimmten Bereichen, wie der Medizin, der Industrie und der Hochtechnologie, werden herkömmliche Innovationsmodelle allmählich zu kostspielig, weil für vielschichtige, spezialisierte Innovationen Experten aus immer mehr unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeiten", erklärte Richard Walker, Geschäftsführer der Firma Swedish Biomimetics, jüngst am Rande des Biomimetik-Symposions im Vienna Biocenter.
Warum ein Prinzip neu erfinden, das sich die Evolution bereits ausgedacht hat? Leichter ist es, die Idee abzuschreiben - vorausgesetzt, man kennt die Schrift. Swedish Biomimetics hat gelernt, im Buch des Bombardierkäfers zu lesen. Das wichtigste Merkmal dieses in Europa lebenden Insekts ist sein Explosionsapparat. Bei Gefahr bläst es einem Angreifer einen reizenden und übel riechenden Dunst aus zwei Röhren direkt entgegen. Dabei ist ein deutlicher Explosionsknall zu vernehmen.
Die kleine Stinkbombe eines Käfers
"Die Explosion erfolgt unter sehr geringem Druck, sonst würde der nur einen Zentimeter lange Bombardierkäfer zerplatzen", sagt Walker. Das Tierchen erzeugt seinen aus Tröpfchen bestehenden Dunst in einer eigenen, abgeschlossenen Körperkammer. Um sie auszustoßen, öffnet er eine Klappe am Hinterleibsende. Der Druckunterschied zwischen dem Körperinneren und der Außenluft hat zur Folge, dass die kleine, feuchte Stinkbombe herauszischt. "Das Prinzip kann auf Feuerlöscher, Inhalationsgeräte oder Einspritzpumpen in Autos angewendet werden", so Walker. Sein Unternehmen testet derzeit eine neuartige Einspritzpumpe für Automotoren auf der Basis der Niedrigdruck-Explosion. Das System verbraucht weniger Benzin und verursacht weniger Emissionen als die herkömmlichen Patente.
"In der Industrie müssen unterschiedlichste Experten gemeinsam kreativ sein. Die Natur ist hingegen per definitionem multi-disziplinär. Sie verfolgt einen holistischen Ansatz. Ganz ähnlich müssen wir in der Biomimetik mit den Mechanismen beginnen, die wir haben wollen, und erst danach fragen, wie wir sie umsetzen", erklärt Walker. Biometiker arbeiten anwendungsorientiert.
Der Begriff entstammt den griechischen Wörtern "bios" für Leben und "mimetikos" für imitieren. Obwohl die Forschungsdisziplin relativ jung ist, ist die Idee, biologische Systeme und Materialien als Modell für moderne Technologien zu studieren, nicht neu. Schon Leonardo da Vinci versuchte, Fragen der Menschheit über Anleihen aus der Natur zu lösen. Seine Flugmaschinen aus dem 15. Jahrhundert, die auf physiologischen Studien von Vögeln beruhen, sind eines von mehreren Beispielen für frühe Biomimetik.
Kunststoffe mit Perlmutt-Struktur
Heute gibt es selbstreinigende Oberflächen nach dem Prinzip der Lotusblätter oder wiederverwendbare Klebebänder nach Art der Gecko-Füßchen. Geckos gehen auf feinen Lamellen, die jede Struktur für die Dauer des Tritts umschließen, wodurch das Reptil auf der Waagrechten und auf der Senkrechten sowohl aufrecht als auch kopfüber laufen kann. Wissenschafter um Lars Berglund von der Universität Stockholm haben zudem ein Polymer entwickelt, das bei Zimmertemperatur hergestellt wird und dessen Struktur der des Perlmutt gleichkommt. Perlmutt schimmert, weil jede einzelne der feinen Kalkschichten, aus denen seine Oberfläche aufgebaut ist, Licht reflektiert. Das Schichten-Prinzip ergibt aber auch einen besonders widerstandsfähigen, harten und wiederverwendbaren Kunststoff.
"Alles in der Natur ist entweder wiederverwertbar oder biologisch abbaubar. Sie zielt darauf ab, nichts zu verschwenden", sagt Julian Vincent, Professor am Zentrum für Biomimetik und Naturtechnoloigen am Institut für Maschinenbau der Universität Bath: "Die Natur ist unser ultimativer Lehrer." In einer Studie haben Vincent und seine Kollegen insgesamt 5000 Lösungen zu unterschiedlichen Fragestellungen verglichen. Wie sich zeigte, verbrauchen technologisch generierte Verfahren - etwa die Verarbeitung von Eisenerz, das Schmelzen von Glas oder die Plastik-Erzeugung - im Allgemeinen eine große Menge an Energie und natürlichen Ressourcen. "In der Natur wird hingegen nur wenig Energie benötigt, um Fragen des Designs zu lösen. Wichtig sind vielmehr Information und Struktur, weil biologische Materialien komplexer aufgebaut sind. Würde die Technologieentwicklung Information einsetzen, um komplexere Strukturen zu schaffen, könnten wir eine Menge Energie und Ressourcen sparen", ist Vincent überzeugt. Seiner Meinung nach sollte die Industrie in diesen - derzeit in der Grundlagenforschung befindlichen - Weg investieren.
Die Heirat von Technik
und Natur
Um den Weg zur Hochtechnologie auf Basis der Biologie zu ebnen, arbeitet Vincent an einer "Bibliothek der Natur". Dabei wird die Natur mit der Technik verheiratet. Die Datenbank enthält besondere Eigenschaften von Tieren und Pflanzen in Kombination mit möglichen Anwendungen. Etwa können Partikel so fein wie jene von Lehm mit chemischen Teilchen zu einem absolut wasserdichten, aber biologisch abbaubaren Verpackungsmaterial kombiniert werden, das bei Zimmertemperatur erzeugt werden kann. "Um erkennen, wie die Prinzipien der Natur zum Einsatz kommen könnten, müssen wir eine Verwandtschaft der Ideen herstellen", sagt Vincent: "Diesem Gedanken folgend, wäre es etwa am klügsten, ein Flugzeug nach dem Vorbild der Seidenraupe zu spinnen und zu einem großen Ganzen zusammenzuweben. Eine der größten Schwierigkeiten bei Fliegern sind nämlich die Schweißnähte."
Jedoch funktioniert nicht alles so, wie man es sich vorstellen könnte. Lange hatten Forscher angenommen, dass Termiten ihre Nester - bauliche Kunstwerke der Natur - so anlegen, dass die Temperatur im Bau stets konstant bleibt. Was die Haufen für die Beheizung von Hochhaus-Anlagen interessant machte. Der US-Biologe Scott Turner konnte anderes nachweisen: "Termiten machen sich eine spezielle Art von Wind-Energie zunutze. Biologisch gesehen ist das interessanter als angenommen, die Art der Luft-Zirkulation aber zu diffus für die Hochhausarchitektur", so Turner.
Ganz ohne die herkömmlichen Innovationsprozesse, die der Mensch aus sich heraus zeitigt, geht es zudem auch nicht. Immerhin findet das Rad, erfunden von den Sumerern im 4. Jahrtausend vor Christus, keine Verwendung in der Natur.