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Der amerikanische Physiker Walter Kohn erhielt im Vorjahr den Nobelpreis für Chemie. Der frühere Österreicher war vergangene Woche zu Besuch in Wien. Der "Wiener Zeitung" gewährte er | ein Exklusiv-Interview.
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Als der 1923 in Wien geborene amerikanische theoretische Physiker Prof. Dr. Walter Kohn, nachdem bekannt geworden war, daß ihm der Chemienobelpreis 1998 verliehen wurde, in einem Interview gefragt
wurde, als was er sich eigentlich fühle, lautete seine Antwort: in erster Linie als Amerikaner, in zweiter Linie als Weltbürger, in dritter Linie als Jude und in vierter Linie als früherer
Österreicher · was angesichts dessen, daß seine Eltern von den Nazis umgebracht wurden, und auf Grund seiner bitteren Erinnerungen an die Jahre 1938 und 1939, als die antisemitische braune Flut
Österreich überspülte, durchaus verständlich ist.
Zwar ist ihm damals persönlich leiblich nichts Schreckliches passiert. Er mußte nicht selbst mittun, als nach dem Einmarsch Hitlers Juden und Jüdinnen kniend die Straßen Wiens von den aufgemalten
Parolen Schuschniggs mühsam zu reinigen gezwungen wurden, aber er war hilfloser Augenzeuge dieser herzlosen Erniedrigung. Er wunderte sich damals auch, daß rund ein Drittel der Lehrer im Akademischen
Gymnasium, wo etwa ein Viertel der Schüler Juden waren, plötzlich mit einem Hakenkreuzabzeichen auf dem Revers ihres Sakkos erschienen.
Er mußte die berühmte Schule mit dem Zwi-Perez-Chajes-Realgymnasium im 2. Bezirk, einer ausgezeichneten jüdischen Schule, vertauschen. Dort erweckten zwei Lehrer in dem 15-, 16jährigen Schüler die
Liebe zu Physik und Mathematik; beide wurden später ermordet. Das Ansichts-, Kunst- und Glückwunschkartengeschäft wurde der Familie weggenommen, doch da der junge Ariseur nichts vom Betrieb verstand,
mußte der Vater weiter bei ihm arbeiten.
Im August 1939, knapp bevor am 1. September der Krieg begann, gelang es Walter, zu einem Geschäftspartner seines Vaters nach England auszureisen. Als "feindlicher" Ausländer wurde er von Mai 1940 bis
Jänner 1942 auf der Insel Man interniert und entschloß sich dann, befragt, ob er bleiben oder fort wolle, nach kürzester Überlegung, nach Kanada zu gehen. Dort sponserte eine wohlhabende
Emigrantenfamilie aus Deutschland fünf junge Leute, in Toronto angewandte Mathematik zu studieren. Hier erwarb Kohn den Grad eines Bachelor of Arts (Bakkalaureus, unterster akademischer Grad, der
philosophischen Fakultät) und danach an der namhaften Harvard-Universität sein Doktorat unter dem späteren Physiknobelpreisträger Julian Schwinger. Mit den Eltern war er anfangs über das Rote Kreuz
und die holländische Botschaft in Kontakt, doch nach dem Krieg konnte er nur noch erfahren, daß sie von Theresienstadt mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz in den Tode geschickt worden
waren.
Der Exösterreicher kam bereits im Sommer 1951 nach Wien, wohin seine Schwester aus England zurückgekehrt war, doch die Reminiszenzen an die dunkle Zeit vor 60 Jahren verfolgen ihn bei jedem
Aufenthalt. Er ist aber von der Wärme und dem Interesse, mit denen er in Wien empfangen wurde, sehr beeindruckt. Während er die Wahl Waldheims als Ohrfeige empfand, führte er mit Bundespräsident
Klestil eine lange Korrespondenz und bei dem ihm zu Ehren gegebenen Empfang in der Hofburg bewunderte er besonders Kardinal König. An der Technischen Universität Wien, die ihm 1996 das Ehrendoktorat
verlieh, ist er vor allem mit Prof. Peter Weinberger befreundet, der ihn mit österreichischen Kollegen in Kontakt brachte, und er hat auch sehr gute Beziehungen zu den Studenten.
Kohn bezeichnet sich selbst hauptsächlich als Universitätsmenschen. Tätig ist er im Institut für theoretische Physik der Nationalen Wissenschaftsstiftung (NSF) an der Universität von Kalifornien in
Santa Barbara, wo jetzt ein Gebäude Kohn Hall heißt, aber auch als Konsulent von Regierungslaboratorien und Firmen.
Vor Journalisten versuchte der Träger der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung der Welt, zu erklären, worin seine preisgekrönte Leistung besteht: Es geht um die Elektronenstruktur der Materie.
Alle Atome sind aus den schweren und daher praktisch stillstehenden Atomkernen und den extrem leichten und sich schnell bewegenden Elektronen zusammengesetzt, die für viele Eigenschaften,
insbesondere wie die Atome und Moleküle zusammenkleben, maßgebend sind. Die Frage ist, wie organisieren sich die Elektronen in der Gegenwart der Kerne und wie reagieren Atome, wenn sie zu Molekülen,
Kristallen, Festkörpern und Flüssigkeiten zusammenkommen.
Der österreichische theoretische Physiker und Nobelpreisträger (1933) Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) gab von 1926 an mit der Wellenmechanik, nach der die Elektronen die Atomkerne wie eine Art
Wellennebel umgeben, eine mathematische Antwort. Die berühmte und grandiose Schrödinger-Gleichung hat aber einen großen Haken. Man kann sie nur in den allereinfachsten Fällen lösen. Von ihr ausgehend
versucht der zweite Chemienobelpreisträger 1998 neben Kohn, der Mathematiker und Chemiker John A. Pople von der Northwestern University in Evanston (US-Staat Illinois), mit den leistungsfähigsten
Computern so weit wie möglich zu kommen. Er ist bei bis zu zehn Atomen erfolgreich, doch bei Systemen mit mehr als zehn Atomen geht es selbst mit den schnellsten Computern nicht mehr · man stößt an
eine Barriere.
Hier nun tritt Kohn auf den Plan. Interessanterweise arbeitet er überhaupt nicht mit dem Computer (außer um lange E-Mails zu schreiben) und häufig nicht einmal mit Papier und einem Schreibgerät,
sondern mit dem Kopf · und zwar oft in der Nacht, wie seine Ehefrau bestätigen kann. In den 60er Jahren begann sich Kohn in einem "Sabbatical Year" (viele US-Professoren haben alle sieben Jahre für
Forschungen anderswo frei) in Frankreich mit der Elektronenstruktur in Legierungen zu beschäftigen, bei denen die Elektronen an sehr unregelmäßigen Stellen sitzen. Er entwickelte eine Theorie, die
Dichtefunktionaltheorie, die die Dichteverteilung der Elektronen in jedem Punkt des dreidimensionalen Raumes zu ermitteln gestattet. Sie liefert allerdings keine sehr genauen Resultate. Man kann aber
mit ihr sehr viel leichter große Systeme aus vielen Atomen berechnen. Die Schrödingertheorie ist sehr exakt, aber nur für kleine Systeme, die neue Methode dagegen ist nicht sehr präzise, doch kann
man mit ihr mit hunderten oder tausenden Elektronen rechnen. Für kleine Moleküle benützt man das traditionelle Verfahren, ist es notwendig, große Moleküle oder Festkörper zu analysieren, hilft
hingegen nur die Dichtefunktionaltheorie. Da man mit ihr die Eigenschaften verschiedener Materialien besser verstehen kann, hat sie zahlreiche sehr nützliche Anwendungen. So kann man in der
Pharmaindustrie neue Medikamente (große Moleküle) vorausberechnen, ohne sie tatsächlich herstellen zu müssen. Auf diese Weise erspart man sich viele Experimente und damit auch viel Geld.
In der Bekanntgabe des Nobelpreiskomitees heißt es, daß Walter Kohn und John Pople die Auszeichnung "für ihre Entwicklungen beim Studium der Eigenschaften von Molekülen und der chemischen Prozesse,
an denen sie beteiligt sind", erhalten. Übrigens hat Kohn, der 1998 an der feierlichen Übergabe der Preise an Alfred Nobels Todestag, dem 10. Dezember, verhindert war, bisher weder das Diplom noch
das Preisgeld bekommen. Das geschieht in der kommenden Woche in Stockholm, wo er auch einen Nobelvortrag über seine Theorie halten wird.
In einem Referat beim Internationalen Symposion über die Zukunft der Forschung im Radiokulturhaus mit dem Titel "Persönliche Gedanken über die Grundlagenforschung" bezeichnete Kohn die Wissenschaft
als eines der großen Ruhmesblätter der Menschheit. Was er an ihr besonders schätze, sei, daß sie zwei ganz verschiedene Seiten besitzt: Erstens die Nützlichkeit und zweitens, daß sie auch ein Geistes-
und Kulturgut wie gute Literatur oder gute Kunst ist, die den Menschen ebenso ansprechen kann und die Welt besser und tiefer zu begreifen ermöglicht. Es ist fast ein religiöses Gefühl, daß wir viele
Dinge zumindest teilweise verstehen können. Trotz der großen Errungenschaften dieses Jahrhunderts gibt es aber Menschen, die gegen die Wissenschaft sind, die Angst vor ihr haben und sie als etwas
Drohendes betrachten.
Die Wissenschaft habe allerdings auch negative Seiten. Der Holocaust ist wissenschaftlich durchgeführt worden, der berüchtigte KZ-Arzt Mengele führte grausame medizinische Experimente durch, es gab
200.000 zivile Opfer der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki und jetzt besteht die Gefahr von chemischen und biologischen Waffen. Die Kluft zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft ist zum Teil auf
diese Gefahren zurückzuführen. Wir sollten uns daher damit beschäftigen, daß diese gefährlichen Aspekte der Wissenschaft international kontrolliert werden, damit wir ihre positiven Aspekte genießen
können.