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Tschetschenische Rebellen haben in der Nacht auf Dienstag in der russischen Nachbarrepublik Inguschetien bei Angriffen 57 Menschen getötet, unter ihnen den amtierenden Innenminister Abukar Koschtojew. Über 60 Personen wurden verletzt. Der russische Präsident Wladimir Putin kündigte nach einer eiligst einberufenen Krisensitzung der Sicherheitsdienste die Entsendung zusätzlicher Militärmitarbeiter in die Krisenregion an.
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Die rund 200 mit Raketen- und Granatwerfern bewaffneten Kämpfer griffen in drei Städten am späten Montagabend fast zeitgleich mehrere Regierungseinrichtungen und Polizeistationen an.
In Nasran stürmten sie das Gebäude des Innenministeriums und ermordeten neben dem amtierenden Innenminister Kostojew auch seinen Vize Sjaudin Chatijew. Getötet wurden darüber hinaus auch der Staatsanwalt von Nasran, Mucharbek Busurtanow, dessen Amtskollege für den Landkreis Nasran, Bilan Chamtschijew, der Ex-Chef des territorialen Migrationsdienstes, Magomed Girejew, 28 Zivilisten sowie 13 Polizeibeamte, deren Hauptquartier die Rebellen einnehmen wollten.
Die Besetzungsaktion dauerte sechs Stunden lang. Danach lieferten sich die offenbar islamistischen Freischärler mit den Sicherheitskräften die ganze Nacht hindurch Gefechte. Nach Sonnenaufgang sollen sie mit gestohlenen Autos in Waldgebiete in Richtung der tschetschenischen Grenze geflüchtet sein.
In den Orten Slepzowsk und Karabulak wurden ebenfalls Amtsgebäude und Polizeistationen überfallen. In Karabulak befand sich bis vor Kurzem eines der größten Zeltlager für tschetschenische Flüchtlinge, die russische Regierung hatte die Räumung angeordnet. Gefechte wurden auch aus der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala gemeldet.
Während in Nasran am Dienstag Hilfs- und Feuerwehrkräfte noch damit beschäftigt waren, die Leichen zu identifizieren und den Brand im Innenministerium zu löschen, berief Putin in Moskau eine Krisensondersitzung ein, um mit seinem Innenminister Raschid Nurgaljew, dem Chef des Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, sowie dem Leiter des Militärgeheimdienstes, Walentin Korabelnikow, das weitere Vorgehen in der Krisenregion zu beraten. Man werde die Verantwortlichen "gnadenlos verfolgen" und "die Angreifer zerstören", kündigte der Präsident an. Er ordnete zudem die Entsendung von rund 1.000 weiteren Soldaten in das Krisengebiet an, die die bereits im Nordkaukasus stationierten zehntausenden Polizisten und Soldaten unterstützen sollen.
Rückschlag für den Kreml
Der gestrige Angriff lässt sich nur schwer mit Putins gebetmühlenartig wiederholter Version von der befriedeten Teilrepublik Tschetschenien vereinbaren. Nach dem tödlichen Anschlag auf den Moskau-treuen tschetschenischen Präsidenten Achmat Kadyrow am 9. Mai war dies nun der zweite schwere Rückschlag für die Tschetschenien-Politik des Kremls innerhalb kurzer Zeit. Für den Überfall in Inguschetien machte der tschetschenische Innenminister Alu Alchanow den berüchtigten Feldkommandeur Schamil Bassajew verantwortlich. Diser hatte sich zum Mord an Kadyrow bekannt und wird als Drahtzieher mehrerer Terroranschläge in Südrussland und Moskau mit Dutzenden Toten gesucht.
Zugleich erhob Alchanow, der als Kreml-Kandidat bei den Präsidentenwahlen der Kaukasusrepublik am 29. August antritt, massive Vorwürfe gegen den einst demokratisch gewählten und heute im Untergrund operierenden tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, der sich stets von Bassajews Anschlägen distanziert hat. Vergangene Woche hatte Maschadow aber irritierender Weise eine Änderung seiner Kampftaktik angekündigt. "Bisher konzentrierten wir uns auf Sabotageakte, aber bald werden wir Militäraktionen beginnen", hatte er erklärt. Das zeigt zumindest, dass es Russland auch nach fünf Jahren im zweiten Krieg in Tschetschenien nicht gelungen ist, die Rebellen entscheidend zu schwächen oder gar zu besiegen. Stattdessen wächst nun sogar die Befürchtung, dass sich die Unruhen auf andere Gebiete im Süden Russlands ausweiten könnten.
Abgeordnete in Moskau verurteilten den Überfall in Inguschetien, kritisierten aber auch die russischen Sicherheitsbehörden im Nordkaukasus. "Jeder Bürger darf fragen, wie es passieren konnte, dass 200 bewaffnete Rebellen unbemerkt zusammenkommen", sagte der stellvertretende Duma-Vorsitzende Oleg Morosow. "Wir wiegen uns in der trügerischen Sicherheit, dass der Krieg in Tschetschenien vorüber ist".
Putin setzt auf Kadyrow-Clan
Trotz der zunehmenden Gewalt und Kritik setzt Putin im tschetschenischen Wahlkampf voll auf den Kandidaten des Kadyrow-Clans. So lobte er Alchanow, einen engen Vertrauten des ermordeten Achmat Kadyrow erst letzte Woche bei einem Treffen in Moskau dafür, dass er "die Ordnung in der Teilrepublik wiederhergestellt" habe und "rücksichtsvoll im Umgang mit Menschen" sei.
Seit Kadyrows Tod gilt sein Sohn Ramsan, der für eine eigene Kandidatur mit 27 zu jung ist, als heimlicher Machthaber Tschetscheniens. Seine 6.000-köpfige Präsidentengarde, der Entführungen, Folter und Mord zur Last gelegt werden, möchte Putin lieber als Unterstützung gegen die Rebellen denn als zusätzlichen Gegner wissen. Also begann der Kreml, wie ihm Kritiker vorwerfen, sein bereits bekanntes Spiel der Lenkung tschetschenischer Wahlen und widmete Putins Lob für Alchanow über zehn Minuten in den Abendnachrichten des Staatsfernsehens.
"Bei demokratischen Wahlen hätte niemand aus dem Kadyrow-Clan Chancen auf einen Sieg", sagte der tschetschenische Geschäftsmann Malik Saidullajew, der bisher einzige Gegenkandidat Alchanows. Saidullajew war bei den letzten Präsidentenwahlen im Oktober 2003 wie alle anderen Gegenkandidaten Kadyrows vom Kreml am Antreten gehindert worden.