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Die "Bologna-Erklärung" -ein Programm zur Harmonisierung der Hochschulsysteme

Von Hans Pechar

Wissen

Die am 19. Juni 1999 von 29 europäischen Ländern unterzeichnete Bologna-Erklärung verfolgt das Ziel, bis 2010 einen "europäischen Hochschulraum" zu schaffen. Um aus österreichischer Perspektive die dafür nötigen Schritte zu diskutieren, veranstalteten die Rektorenkonferenz, die Fachhochschulkonferenz und das Bildungsministerium am 21. Juni 2000 den "Ersten österreichischen Bologna-Tag".


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Paris und Bologna waren die ersten Universitätsstädte des Mittelalters. Heute stehen diese Namen für Bestrebungen zu einer Harmonisierung der europäischen Hochschulsysteme und zur Schaffung eines "europäischen Hochschulraums".

Den Anfang machte die "Sorbonne-Erklärung" vom Mai 1998. In ihr formulierten die Bildungsminister Deutschlands, Englands, Frankreichs und Italiens ihre Überzeugung, daß Europa eine gemeinsame Architektur seiner Hochschulsysteme benötigt. Die Harmonisierung sollte sich nicht auf die Inhalte der Ausbildung, sondern auf akademische Abschlüsse und Studienzyklen beziehen. Das aus der angelsächsischen Welt stammende zweiphasige Studiensystem mit seiner Teilung in einen "undergraduate" und einen "graduate"-Zyklus setzte sich in immer größeren Teilen der Welt (auch in europäischen Staaten) durch.

Jene Hochschulsysteme, die sich diesem Prozeß widersetzten, hätten mit ernsten Wettbewerbsnachteilen zu rechnen.

Diese Deklaration der "großen Vier" traf auf eine große Medienresonanz und löste bei den kleineren EU-Ländern vornehmlich Irritationen aus. Die kleineren EU-Länder fühlten sich durch das Vorpreschen der Großen vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne daß es vorher gemeinsame Konsultationen gegeben hätte. Immerhin hatte die Sorbonne-Erklärung eine erhebliche, von den Proponenten in diesem Umfang vermutlich gar nicht erwartete Wirkung. Die österreichische Regierung z.B. nahm sie zum Anlaß, um den Bachelor- und Master-Abschluß einzuführen.

Die gesetzlichen Grundlagen dafür wurden im Juli 1999, nur knapp ein Jahr nach der Sorbonne-Erklärung geschaffen.

Im Juni 1999 trafen sich in Bologna die Bildungsminister von 29 europäischen Staaten und unterzeichneten eine Deklaration, die die Intentionen der Sorbonne-Erklärung aufgriff und konkretisierte. Diese Bologna-Erklärung hat also zum einen eine wesentlich breitere Basis: neben den 15 EU-Mitgliedern wurde sie auch von der Schweiz und Norwegen sowie von den meisten ost- und südosteuropäischen Ländern unterschrieben. Darüber hinaus ist sie keine unverbindliche Absichtserklärung, sondern die freiwillig eingegangene Verpflichtung zu einem Arbeitsprogramm mit präzise definierten Zielen, Terminen und Arbeitsschritten. Die gemeinsame Architektur des europäischen Hochschulraums (zu den Zielen im einzelnen vgl. den nebenstehenden Kasten) soll bis 2010 abgeschlossen sein. Um diesen ambitionierten Terminplan zu ermöglichen, gibt es auf nationaler und supranationaler Ebene laufende follow ups, die diesen Prozeß im Detail planen und seinen Fortschritt überprüfen sollen.

Kulturelle Integration

Warum wollen die Europäer, die ihre nationale Eigenbrötlerei in der Vergangenheit geradezu lustvoll zelebriert haben, ihre Hochschulsysteme plötzlich harmonisieren? Weil der Prozeß der europäischen Integration, der auf ökonomischer Ebene bereits sehr weit gediehen ist und auch auf politischer Ebene erkennbare Fortschritte macht, immer stärker auf die kulturelle Ebene übergreift. Und weil für die maßgeblichen Akteure außer Frage steht, daß auch die ökonomische und politische Integration ins Stocken gerät, wenn die Kultur auf Dauer aus diesem Prozeß ausgespart bleibt und es nicht gelingt, in Ansätzen eine "europäische Identität" aufzubauen.

Die Mobilitätsprogramme, die die Europäische Kommission in den letzten 15 Jahren (zunächst gegen den Widerstand der nationalen Bildungsminister) entwickelt und mit großem Erfolg vorangetrieben hat, sollen dazu beitragen, die kulturellen Barrieren gegen das Zusammenwachsen Europas zu überwinden. Ein Ziel ist es, in der gesamten Bevölkerung die Kenntnis anderer Gemeinschaftssprachen zu verbessern und so den kulturellen Austausch und die Bildung einer europäischen Identität zu fördern. In zugespitzter Form stellt sich diese Aufgabe bei der Gruppe der Höchstqualifizierten, den Studenten bzw. Hochschulabsolventen. Durch eine Intensivierung der akademischen Mobilität soll sich eine europäisch denkende Elite bilden, die die nationalen Mentalitätsdifferenzen überbrücken kann. Zehn Prozent der in den EU-Staaten inskribierten Studenten sollen sich an den Austauschprogrammen beteiligen, lautet die Zielquote.

Die Mobilitätsprogramme der EU sind vor allem deshalb erfolgreich, weil die politischen Ziele und die individuellen Motive der Studenten in diesem Fall perfekt harmonieren. Immer mehr Studenten erkennen die Bedeutung von verbesserten Fremdsprachenkenntnissen und Auslandserfahrungen für ihre Karrierechancen am Arbeitsmarkt. Die Mobilitätsbereitschaft der Studenten ist mittlerweile größer als die zur Unterstützung von Austauschprogrammen bereitgestellten Stipendien. Eine wachsende Zahl von Studenten (die statistisch kaum erfaßt ist) wählt eine noch viel radikalere Lösung und absolviert das gesamte Studium im Ausland. Das Diskriminierungsverbot (EU-Bürger müssen bei Hochschulzugang nach den gleichen Kriterien behandelt werden wie die eigenen Bürger eines Landes) hat diese Option innerhalb stark Europas vereinfacht. Durch diese - in den 1990er Jahren beschleunigte - Entwicklung hat die Bedeutung der nationalstaatlichen Prägung europäischer Hochschulsysteme deutlich abgenommen.

Andererseits liegt die politische Verantwortung für Bildung weiterhin bei den nationalen Regierungen, und daran wird sich in absehbarer Zukunft auch nichts ändern. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Kultur- und Bildungstraditionen der einzelnen europäischen Staaten erwachsen daraus immer wieder Spannungen zwischen den nationalen Systemen und der Internationalisierung bzw. Europäisierung von Hochschulbildung. Das wichtigste Ziel eines europäischen Hochschulraumes ist es, diese Widersprüche und Reibungsverluste abzubauen.

Wo bestehen Spannungen?

Nach wie vor ist die Anrechnung von im Ausland verbrachten Studienzeiten eine aufwendige Prozedur, die viel Energie bindet und bei einigen Studenten die Lust auf Mobilität dämpft. Nicht einmal innerhalb Österreichs ist es immer einfach, von einer Universität auf eine andere zu wechseln und die erworbenen Teilqualifikationen "mitzunehmen".

Diesem Problem liegt ein anachronistisches Verständnis von akademischer Anerkennung zu Grunde, das auf inhaltliche Identität abzielt. Der europäische Hochschulraum benötigt ein abstrakteres Verfahren, das gleichsam eine "akademische Währung" definiert, die man von einem Studienort auf den anderen übertragen kann. Im amerikanischen Hochschulsystem ist ein solcher "credit transfer" selbstverständlich. Auch in Europa gibt es Ansätze zu einem "European Credit Transfer Scheme" (ECTS), das aber noch bei vielen Universitäten auf Ablehnung stößt.

- In ähnlicher Weise stellt sich das Problem Anerkennung von Auslandsaufenthalten für Lehr- und Forschungszwecke für die Karrieren von Hochschullehrern. In der politischen Rhetorik wird Mobilität gefordert, aber jene, die sie tatsächlich praktizieren, haben in den Labyrinthen des Beamtendienstrechts häufig das Nachsehen.

- Ein weiteres Problem ist die über die Landesgrenzen hinausreichende Anerkennung akademischer Abschlüsse. In dem Maß, in dem ein europäischer Arbeitsmarkt Realität wird, verstärkt sich die Notwendigkeit, die akademischen Titel jedes Landes für internationale Arbeitsmärkte verständlich und transparent zu machen. Daher das Bestreben der Bologna-Erklärung, sich auch in Europa an einem zweiphasigen Studiensystem zu orientieren, das sich weltweit immer klarer durchsetzt: ein drei- oder vierjähriges Undergraduate-Studium schließt mit einem Bachelor ab; darauf folgt eine "graduate"-Phase mit einem ein- oder zweijährigen Master-Programm und einem Doktoratstudium, dessen Dauer sich nicht mehr so klar definieren läßt. Von grundlegender Bedeutung ist es, den Bachelor nicht als "Zwischenabschluß" zu definieren, an den sich quasi automatisch ein Master-Studium anschließt, sondern als einen am Arbeitsmarkt voll anerkannten Erstabschluß, mit dem ein großer Teil der Studierenden ins Berufsleben eintritt.

Die Realisierung eines Zielkatalogs, der von allen wichtigen europäischen Bildungsministern unterzeichnet wird, sollte eigentlich kein Problem sein.

Ganz so einfach ist es freilich nicht, denn an den Hochschulen, auf deren Reformbereitschaft es letztlich ankommt, stoßen diese Ziele teilweise auf Skepsis und Ablehnung.

Widerstände

Es ist ein offenes Geheimnis, daß der Druck zur Schaffung eines Hochschulraums weniger von den für Kultur und Bildung verantwortlichen Ministern, als ihren für Wirtschaft und Arbeitsmärkte zuständigen Kollegen ausgeht. Aus ökonomischer Perspektive ist akademische Mobilität ein Mittel zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber Nordamerika und Ostasien. Vor allem das amerikanische Hochschulsystem ist wesentlich vitaler und leistungsstärker als die meisten seiner europäischen Pendants. Die starke Wettbewerbsorientierung innerhalb eines einheitlichen Rahmens macht dort die Kombination von Massen- und Spitzenausbildung möglich: in den USA erwirbt ein größerer Anteil der Jugendlichen als in Europa einen tertiären Abschluß, und zugleich gibt es in diesem Land die prestigestärksten Eliteuniversitäten. Dieses relativ problemlose "sowohl als auch", dem in Europa nach wie vor ein verkrampftes "entweder oder" gegenüber steht, bietet einen idealen Nährboden für "wissensbasierte Ökonomien" und erklärt zum Teil die Vorsprünge der USA in der "new economy".

Darüber hinaus hat sich (in Österreich weitgehend unbemerkt) ein weltweiter Markt für Auslandsstudien entwickelt, auf dem gigantische Geldbeträge umgesetzt werden. Die Studenten, die kostendeckende Gebühren zahlen, kommen großteils aus den wohlhabenden Regionen Asiens, aber auch aus anderen Regionen. Den Markt teilen sich fast ausschließlich die englischsprachigen Länder, weil sie Studienangebote und Abschlüsse anzubieten haben, die in aller Welt Wert und Prestige besitzen. Mit den so erzielten Einnahmen können die Hochschulen die Engpässe kompensieren, die daraus entstehen, daß weltweit die staatlichen Hochschulausgaben zurückgehen.

Auch wenn dieser ökonomische Kontext von den Bildungsministern nicht in den Vordergrund gestellt wird, kann er dem informierten Beobachter nicht entgehen. An den europäischen Universitäten, an denen man Kultur und Wirtschaft weitgehend als Gegensätze empfindet, lösen solche Überlegungen eher Widerstand als Reformbereitschaft aus. Man befürchtet eine doppelte Kolonisierung der europäischen Universität: sie soll der Profitlogik der Ökonomie und der Dominanz des amerikanischen Modells unterworfen werden. Man wird nicht leugnen können, daß viele europäische Hochschulsysteme, auch das österreichische, noch einen weiten Weg in Richtung ökonomischer Effektivität und Effizienz vor sich haben. Die Befürchtung der "Amerikanisierung" geht freilich ins Leere. Die Bologna-Erklärung strebt ausdrücklich kein uniformes Modell an, sondern einen gemeinsamen Bezugsrahmen, der genügend Raum für jene kulturelle Vielfalt läßt, die Europa auszeichnet.

Eine weitere Befürchtung der Universitäten unterstellt eine Zentralisierung der europäischen Hochschulsysteme. Auch dieser Verdacht ist unbegründet. Es geht sicher nicht um eine - von der EU gesteuerte - inhaltliche Angleichung der Hochschulbildung in Europa. Die Verantwortung für die Inhalte der Ausbildung liegt bei den Hochschulen und den nationalen Regierungen. Angestrebt wird ein einheitlicher Rahmen, innerhalb dessen es erst möglich ist, die Unterschiede in den inhaltlichen Profilen angemessen wahrzunehmen, zu kommunizieren und auszutauschen. Auf die europäischen Hochschulen werden keine neuen gesetzlichen Vorschriften zukommen, es ist aber wahrscheinlich, daß es subtilere Formen des Zwanges gibt: Hochschulen bzw. Fachbereiche, die aus der gemeinsamen Entwicklung ausscheren, werden mit Wettbewerbsnachteilen rechnen müssen.

Die Bologna-Erklärung ist ein ambitioniertes Programm, die für seine Umsetzung Verantwortlichen werden noch viel Tatkraft und Zähigkeit benötigen. Im kommenden Herbst werden in Österreich ganze zwei Studienangebote beginnen, die mit einem Bachelor abschließen. Andererseits: die österreichischen Hochschulen haben noch eine Dekade vor sich, um die Ziele der Bologna-Erklärung zu erreichen.

Dr. Hans Pechar ist Hochschulforscher am Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF).