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Die Bombe platzte am 10. März 2004. An diesem Tag wurde der Ruanda-Bericht des Untersuchungsrichters Jean-Louis Bruguière in der Pariser Tageszeitung "Le Monde" auszugsweise veröffentlicht. Unter Mitarbeit der französischen Anti-Terror-Polizei DNAT sollte er die Schuldfrage am Völkermord in Ruanda klären, der nach dem Abschuss des Flugzeuges mit dem damaligen ruandesischen Präsidenten Juvenal Habyarimana und seinem burundischen Amtskollegen Cyprien Ntariyamira am 6. April 1994 entfesselt wurde. Und Bruguière machte in seinem Bericht direkt Paul Kagame, den Präsidenten von Ruanda, für den Tod der beiden Staatsoberhäupter und die darauf folgenden rasenden Massaker verantwortlich, die in knapp 100 Tagen bis zu einer Million Ruandern, vorwiegend der Bevölkerungsminderheit der Tutsi, das Leben kostete.
Diese Anschuldigungen kommen für Kagame zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Wollte er doch am 7. April, dem 10. Jahrestag des Ausbruchs der Massaker unter Anwesenheit politischer Persönlichkeiten höchsten Ranges aus aller Welt seine Entschlossenheit gegen kollektive Gewalt in aller Form zur Schau zu stellen und damit auch die internationale Anerkennung seines Regimes - er wurde letzten August mit 95,5 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt - festigen. Die Gedenkfeiern sollten einen Schlussstrich unter die Vorwürfe ziehen, mit denen Kagame seit 1994 konfrontiert war: Die militärische Intervention in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo, die Verwicklung in die Plünderung der kongolesischen Bodenschätze, die diesbezüglichen bewaffneten Auseinandersetzungen mit Uganda und der eher dezent fortschreitende Demokratisierungsprozess sollten in den Hintergrund gedrängt werden.
Und Kagame war schon ganz gut unterwegs. Er wurde im Weißen Haus empfangen und der belgische Außenminister Louis Michel lobte die demokratischen Errungenschaften in Ruanda. Er zögerte dabei auch nicht, die Kritik europäischer Wahlbeobachter wegen deutlicher Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentenwahlen in Ruanda zurückzuweisen, weil diese, nicht den richtigen Einblick gehabt hätten. Auch Frankreich hatte sich um verbesserte Beziehungen zu Ruanda bemüht und seinen Außenminister Dominique de Villepin nach Kigali geschickt. Die "Bombe" von Untersuchungsrichter Bruguière versetzte Kagames Weg in die internationale Anerkennung einen herben Rückschlag.
Unermüdlich dementierten Kagame und seine Mitarbeiter die Behauptungen aus dem Bericht und prangerten im Gegenzug die umstrittene Rolle der Franzosen beim Genozid in Ruanda an. Alle Anschuldigungen des Berichts seien schon bekannt und beruhen nur auf Aussagen politischer Gegner oder Dissidenten aus eigener Reihe und nicht auf materiellen Fakten, die in Ruanda selbst gesammelt wurden, betonen sie.
Doch der Widerhall der gerichtlichen Untersuchung war enorm. Bruguière hatte seit 1998 systematisch in mehreren Ländern Ermittlungen geführt und dabei mit der DNAT eine spezialisierte Institution zur Terrorismus-Bekämpfung an seiner Seite. Es wird deshalb kaum bezweifelt, dass es ihm gelungen ist, ein deutlicheres Licht auf die Rolle Kagames im Kampf um die Macht in Ruanda und die Entfesselung des Völkermords zu werfen, als bisher jemandem vor ihm.
Die Anschuldigungen
Laut Bruguières Bericht, ist das Attentat auf das Flugzeug von Habyarimana auf direkten Befehl von Kagame erfolgt, der damals die Tutsi-Rebellen der Vaterländischen Front Ruandas anführte. Die Pläne für den Anschlag wurden demnach unmittelbar nach Unterzeichnung des Friedensabkommens von Arusha erarbeitet, das am 4. August 1993 den seit 1990 herrschenden Bürgerkrieg zwischen der Bevölkerungsmehrheit der Hutu und der herrschenden Minderheit der Tutsi beenden sollte.
Laut dem Hauptmann Abdul Ruzibiza, der selbst an dem Attentat teilgenommen hatte und als Kronzeuge des Untersuchungsberichts gilt, wusste der Tutsi Kagame sehr wohl, dass der Mord an dem ethnischen Hutu Habyarimana das Pogrom seinen Stammesgenossen auslösen könnte. Kagame habe aber diese Möglichkeit in Kauf genommen, da er den Tutsi in Ruanda sowieso nicht vertraut und nur auf seine Vaterländische Front gezählt habe, die mit ihm aus Uganda in den Bürgerkrieg gezogen war, erzählte Ruzibiza. Mit sowjetischen SAM-16 Raketen aus Uganda sei Habyarimanas Flugzeugschließlich abgeschossen worden.
Sollte ein französisches Gericht zu der Ansicht gelangen, dass die Behauptungen aus dem Bruguière-Bericht der Wahrheit entsprechen, würde das Bild Kagames und seiner Partei als Befreier Ruandas vom Genozid ins Gegenteil verkehrt. Wenn Kagame tatsächlich hunderttausende Tutsi geopfert haben sollte, um an die Macht zu kommen, wäre sein Ansehen nicht nur in Ruanda, sondern auch in der Internationalen Gemeinschaft endgültig zerstört Er selbst müsste sich vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal verantworten, das die Verbrechen von 1994 aufarbeitet.
Die Rolle der Großmächte
Aber nicht nur Kagame ist vom Bericht des Untersuchungsrichters Bruguière betroffen. Auch die passive Haltung der USA und Großbritannien sowie der UNO gerät im Zusammenhang mit dem Genozid in ein schiefes Licht. Warum haben sich Washington und London so lange gegen eine UNO-Intervention gewehrt? Benutzten sie gar die Tutsi-Rebellen für ihre eigenen machtpolitische, strategische und wirtschaftliche Zwecke - etwa um Frankreichs Einfluss in Zentralafrika zu verringern?
Laut Militärexperten hätte eine Eingreiftruppe von 5.000 Mann den Genozid aufhalten können. Statt dessen zog die UNO ihre Truppen bis auf 270 Mann ab. Weiters fällt auf, dass jeder Versuch, eine internationale Untersuchung des Habyarimana-Abschusses von UNO-Behörden immer wieder verzögert wurde. Das Tribunal der Vereinten Nationen für Ruanda in Arusha (Tansania) ließ wissen, dass dies nicht in seinen Kompetenzbereich falle. Erst als die "Bombe" des Untersuchungsrichters Bruguière platzte und die Presse aufrüttelte, wurde der Flugschreiber (Blackbox) des Flugzeugs von Habyarimana bei der UNO in einem Schrank "gefunden".
Die "Operation Turquoise"
Aber auch die Rolle der Franzosen darf nicht vergessen werden. Dass Frankreich die ruandesische Übergangsregierung auch nach dem Abschuss von Präsident Habyarimana weiter unterstützt hat, obwohl diese am Völkermord beteiligt war, steht im Mittelpunkt der Kritik. Diese sogenannte "Operation Turquoise", mit der schließlich Mitgliedern dieser Übergangsregierung und Teilen der ruandesischen Armee die Ausreise aus Ruanda gesichert wurde, war für französische Politiker nicht mehr leicht argumentierbar. Neben der Hilfe für Genozid-Verantwortliche destabilisierten die Truppen von Habyarimana, die sich dadurch in die DR Kongo zurückziehen konnten, die ganze Region, setzten die Kritiker nach.
Die USA, Großbritannien und die UNO entschuldigten sich bereits bei Ruandas Volk für ihre "Passivität" im Zusammenhang mit dem Völkermord. Nicht aber die Franzosen, dessen Außenminister De Villepin die "Operation Turquoise" als eine humanitäre Mission bezeichnete. Darüber hinaus redet de Villepin nicht von dem "Genozid" sondern von "Genoziden" in Ruanda und spielte damit auf Massaker an, die Tutsi - auch unter dem Kommando Kagames - an Hutus in Ruanda und Hutu-Flüchtlingen im Kongo angerichtet hätten.
Kagame schlägt zurück
Kagame verteidigte sich gegen diese Anschuldigungen und die Vorwürfe aus dem Bruguière-Bericht mit frontalen Angriffen auf Frankreich, das er für den Genozid unmittelbar mitverantwortlich machte. Frankreichs Politiker hüllten sich zuletzt in Schweigen. Die französische Justiz ist unabhängig und die Politiker müssen darauf warten, dass der Bericht in extenso veröffentlicht wird, hieß es. Die Staatsanwaltschaft muss dann entscheiden, ob eine gerichtliche Klage daraus folgen wird oder nicht.
Die Situation ist für Frankreich delikat. Muss es doch damit rechnen, erneut wegen der militärischer Hilfeleistung an das Habyarimana-Regime ins Schussfeld zu geraten. Hartnäckig kursieren zudem in Ruanda Gerüchte, wonach französische Soldaten Tutsi-Flüchtlingen ihre Hilfe nicht nur verweigert sondern sie gar Hutu-Milizen ausgeliefert hätten.
Wo bleibt die Wahrheit?
Offensichtlich hat kein Protagonist der ruandesischen Tragödie von 1994 ein ruhiges Gewissen. Daher versuchen sie tendenziell sie die Wogen, die durch die Veröffentlichung des Bruguière-Berichtes entstanden sind, zu glätten. Die in das ruandesische Blutbad verwickelten Regierungen mieden zuletzt offizielle Stellungnahmen.
Das UNO-Tribunal für Ruanda hat bereits einige Funktionäre des Habyarimana-Regimes wegen der Aufhetzung zum Völkermord und der Mitwirkung daran zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Zehntausende der rund 100.000 nach 1994 festgenommenen Verdächtigen warten bis heute auf ein Verfahren. Nicht beleuchtet wird dort allerdings die Mitverantwortlichkeit etwa der USA, Frankreichs oder Großbritanniens. Und solange Großmächte ungestraft ihre strategischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen und dabei auch den Verlust von Menschenleben in Kauf nehmen, besteht auch weiterhin die Gefahr von Genoziden wie in Ruanda.
Vladislav Marjanovic ist Historiker und außenpolitischer Redakteur von Radio Afrika International