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Von der Kolonialisierung bis zum Zeitalter des Internets: Der Pirat ist ein Symbol für - oft unbequeme - Veränderungen.
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Captain Morgan gilt als Erfinder der Invalidenrente. Dem walisischen Freibeuter gab ein Kaperbrief der englischen Krone das Recht, ab 1665 spanische Schiffe in der Karibik auszurauben. Doch im Unterschied zu seinen Raubgenossen verprasste Morgan seine Beuteanteile nicht. Sondern er sparte, sodass er bald Raubzüge in Eigenregie durchführen konnte. Für seine Mannschaft sorgte er mit einem "Piratenkodex", in dem er schriftlich festhalten ließ, welcher Körperteil wie viel wert war. Demnach erhielt ein Pirat "für den Verlust eines rechten Arms 600 Piaster oder sechs Sklaven, den Verlust eines linken Arms 500 Piaster oder fünf Sklaven".
In einer Zeit, in der eine Kuh zwei Piaster kostete, ein normaler Seemann keine Versicherung hatte, die wenigsten Menschen lesen konnten und die Kluft zwischen Arm und Reich einer Kastentrennung glich, war Morgans Kodex wohl durchaus ein Anreiz für Mittellose, sich den Seeräubern anzuschließen. Selbst der Seefahrer James Cook konnte nicht vom Stand aus seiner Berufung folgen: Als Sohn eines Taglöhners stand ihm kein Kapitänspatent zu. Um es zu bekommen, musste er erst die Welt umsegeln. Piratenkapitäne wurden hingegen gewählt. "Der Beste wurde Kapitän und konnte auch wieder abgewählt werde. Es herrschte ein pro-demokratisches System, in dem man durch eigene Tüchtigkeit reich werden konnte", sagt Alexandra Ganser vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien.
In dem vom Wissenschaftsfonds FWF mit 150.000 Euro geförderten Projekt "Die Piratenfigur auf den Fahnen verschiedener Ideologien" erforscht Ganser die literarische Darstellung der Hochblüte der Piraterie im 17. Jahrhundert. Dabei findet sie durchaus Parallelen zur Gegenwart. "Piraten erscheinen besonders häufig, wenn die Kultur in einer Krise steckt", erklärt sie. Das sei während Kolonialisierung so gewesen ebenso wie vor dem Hintergrund der Globalisierung. Allerdings nimmt die Piraterie heute durchaus andere Ausprägungen an.
"Die Entdeckung der neuen Welt im 17. Jahrhundert löste Verunsicherung aus", sagt die Forscherin: "Alles war plötzlich anders: Geografie, Landkarten, Entfernungen. Es gab anders aussehende Menschen, Städte und Länder. Ständig wurden unglaubliche Tiere und Pflanzen beschrieben, die man noch nie gesehen hatte." Da die Berichte so unerhört waren und die Grenzen zwischen Literatur und Sachtexten fließend verliefen, lasen sich viele Beschreibungen der Wirklichkeit wie Fiktion. Augenzeugenberichte kamen Beweisen gleich. Und so beschrieben Piraten, mit Landkarten unterlegt, fast wissenschaftlich die Karibik oder Kontakte mit der indigenen Bevölkerung aus erster Hand. Die Texte, in denen sie sich als Schiffsärzte oder Köche ausgaben um nicht am Galgen zu enden, "halfen dem British Empire, die neue Welt zu entdecken und zu erfassen", erläutert Ganser.
Rückblickend erhöhten die Texte auch den Status des Piraten als Abenteurer, der frei ist in einer Welt, die er sich selbst erobert hat. Seine Erzählungen wecken Sehnsucht und Neid, Bewunderung und Ekel, faszinieren und ängstigen zugleich. Und während Sir Francis Drake, der mit einem Kaperbrief von Königin Elizabeth I. als Kriegstaktik feindliche Schiffe ausraubte, mit seinen Berichten die Londoner Gesellschaft faszinierte, fanden Piraten über Geschichten wie "Robinson Crusoe" oder "Die Schatzinsel" ab dem 18. Jahrhundert Eingang in die Jugendliteratur. Der Pirat wird zur romantischen Figur des Abenteuergenres. Ganser untersucht den Zwiespalt in der Figur, der Raum für Projektionen eröffnet, in dem man sich mit ihr identifiziert oder von ihr abgrenzt. "Der Pirat hat eine historische Rolle bei der Legitimierung unterschiedlichster Ideologien und Diskurse", betont die Literaturwissenschafterin.
Piratin, als Mann verkleidet
In der nordamerikanischen Literatur zum Sezessionskrieg etwa stellen die Nordstaaten die Südstaaten als Piraten dar. Unternehmer aus Washington drucken Feldpost-Umschläge als Negativ-Propaganda gegen den Feind. Auch Karikaturen der Südstaatler kommen vor, die als Piraten geschnappt oder verhaftet werden, Sklaven aus Afrika stehlen und, da sie selbst kein Staat sind, mit Piratenschiffen die Staatsmacht der Union angreifen. Für die Anliegen des Unabhängigkeitskriegs gegen die Briten wiederum wurde die Figur Fanny Campbell erfunden. Die fiktive Piratin richtete sich vor allem an die Arbeiterklasse, die eine Identität gegen England den Unterdrücker aufbauen und als amerikanische Nation zusammengeschweißt werden sollte. Somit lief die Emanzipationsbewegung vom Mutterland über eine Piratin - die freilich als Mann verkleidet war.
"In historischen Texten geht es auch immer darum, wer ein handlungsfähiger politischer Akteur ist", sagt Ganser. Der Pirat hatte eine gesellschaftliche Funktion als Symbolfigur, über die Legitimation und Illegitimität verhandelt wurden. Er handelt nach eigenen Regeln, ist gesetz- und staatenlos, steht jenseits des Kriegsrechts, ist vogelfrei. Der Pirat hat keine Rechte, respektiert aber auch die Rechte Anderer nicht. Und während er auf dem eigenen Schiff streng nach Piratenkodex handelt - bei Angriffen musste militärische Disziplin herrschen -, setzt er sich über die Gesetze in Gasthäfen hinweg - dort durfte er sich haltlos mit allen Folgen betrinken.
Der Pirat steht für Anarchie und fehlende Ordnung und heute ist er ein Zeichen eines gescheiterten Staats. Das zeigt sich besonders anhand der Seeräuber rund um Somalia, die in einer Gegenwelt zum Westen leben. "Eine Folge der US-Zeichentrickserie ,South Park‘ bringt die Situation auf den Punkt", erklärt Ganser. Amerikanische Mittelstandskinder reisen bis nach Somalia, weil sie unbedingt Piraten werden wollen. Dort müssen sie aber feststellen, dass die somalischen Seeräuber keine Menschen mit Papageien auf der Schulter, Augenbinden und tollen Flaggen mit Totenkopf sind. "Sondern es sind bettelarme Menschen, die keinen Staat haben, der hinter ihnen steht und ihnen die Legitimation erteilt. Sie begehen Verbrechen, auch um sich gegen den Zusammenbruch im eigenen Land zu wehren und ihr Leben in der Hand zu haben."
Das Resultat sind gekaperte Schiffe und ermordete Besatzungen. In diesem Sinn ist der Pirat nicht nur Mörder, sondern nahe am Terroristen. Allerdings handelt er anders als der Terrorist nicht im Sinn einer Ideologie. Beide bewegen sich jedoch in einem rechtsfreien Raum, wenn sie gefasst werden - wie die Gefangenen von Guantanamo, die niemand schützen will.
Den Spieß umdrehen
Manche Piraten beziehen sich auf ein höheres Gesetz, das über einem Unrechtsgesetz steht. So gab es im 19. Jahrhundert schwarze Piraten, die für ihre Befreiung eintraten und den Spieß umdrehten: Nicht sie, sondern ihre Versklaver seien die Piraten. Eine ähnliche Richtung verfolgen moderne Öko-Piraten, die Gesetze brechen, um etwa den Walfang zu verhindern. Für sie dürfen zum Schutz der Umwelt zwar keine Menschen zu Schaden kommen, aber andere Vorgaben sehr wohl missachtet werden. Der Umweltschutz ist für sie ein höheres Ziel als das Befolgen von Gesetzen, die andere Interessen schützen.
Etwas anders verhält es sich mit Piraterie im Internet. Ursprünglich waren Gratis-Musikbörsen ein Aufstand gegen das Monopol der Musikindustrie. Mittelfristig entstand aber ein Wildwuchs an Raubkopien. Internet-Piraten missachten das Urheberrecht in den Neuen Medien, wo es ein Leichtes ist, sich fremde Werke anzueignen. Die Debatte dazu ist auch eine zum Diktat des digitalen Marktplatzes, auf dem Kreativität entweder weniger wert ist oder anfangs verschenkt werden muss, damit sie sich langfristig verkauft. In diesem Sinn steht Piraterie für Veränderung - und für vorübergehende Identität.
Schon in der Vergangenheit haben Piraten diese Identität nur für ein paar Jahre angenommen. Wer es erlebte, setzte sich durchaus zur Ruhe. Das Vereinigte Königreich bot Aussteiger-Programme an, die an Steuersünder-Amnestien erinnern. Seeräuber konnten sich als Bürger legitimieren, wenn sie ihre Beute abgaben. Das Programm war so erfolgreich, dass der Berufsstand aufhörte, zu existieren. Und wenn sich im Internet Geschäftsmodelle entwickeln, mit denen alle zufrieden sind, wären wir die Piraten vielleicht bald los.