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Die Botschaft der Rosa Delfine

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen
Ein Flussdelfin wird an Land gebracht, um ihn mit einem GPS-Sender ausstatten zu können.
© Lichterbeck

Die sagenumwobenen Flusstiere des Amazonas werden zurzeit erforscht, um sie - und die Region - besser schützen zu können. Unterwegs mit einem kolumbianischen Forscherteam auf dem Orinoco.


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Kaum ist die Finne des Delfins aus dem bräunlichen Wasser des Orinoco aufgetaucht, rast das Fischerboot heran und zieht einen Kreis um das Tier. Einer der Fischer wirft ein Netz aus. Gleich darauf springen mehrere Männer ins brusthohe Wasser. Nach einiger Zeit schlägt der Delfin an einer Stelle mit der Schwanzflosse, er hat sich in den Maschen verfangen. Sofort packen die Männer ihn. Es ist ein kolossales Exemplar, das von fünf Fischern umklammert auf eine Sandbank getragen wird. Ein Sechster drückt das lange, schnabelförmige Maul mit vier Reihen scharfer Zähne zu. Auffällig sind die rosa Stellen auf Kopf und Unterseite des Delfins.

Bedrohte Art

Die auf den ersten Blick brutale Aktion dient der Rettung des sagenumwobenen Amazonasdelfins. Die Art wird häufig wegen ihrer Pigmentierung als Rosa Delfin bezeichnet. Auf der Roten Liste für gefährdete Arten gilt sie als "Vom Aussterben bedroht". Die Umweltschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) und die kolumbianische NGO Omacha wollen deshalb insgesamt 50 Flussdelfine in fünf Ländern mit GPS-Sendern bestücken. Es geht darum, mehr über die Aufenthaltsorte der relativ wenig erforschten Säugetiere zu erfahren. Vor einigen Monaten lief das Projekt in Brasilien und Bolivien an. Nun wird es im Südosten Kolumbiens am mächtigen Orinoco-Fluss im Grenzgebiet zu Venezuela fortgeführt.

"Wir haben ideale Bedingungen", sagt der Leiter der Mission, Fernando Trujillo. Wegen der Trockenheit liegt der Wasserspiegel des Orinoco rund 15 Meter unter dem der Regenzeit und die Delfine haben sich in den flachen Buchten zwischen den Sandbänken zum Jagen versammelt. "Sie schlagen sich regelrecht die Mägen voll", sagt Trujillo.

Der 50-jährige Kolumbianer gilt als weltweit wichtigster Experte für Flussdelfine. Vor dreißig Jahren riet ihm Jacques Cousteau, der berühmte Meeresbiologe, zu dieser Spezialisierung. Es sei wissenschaftliches Neuland. "Die Delfine haben mich seitdem nicht mehr losgelassen", sagt Trujillo. Später gründete er die NGO Omacha, deren Ziel die Erforschung und der Schutz von Süßwassersäugern ist.

Trujillo will die GPS-Markierung nun auch nutzen, um den Delfinen Gewebeproben zu entnehmen. Diese sollen auf ihren Quecksilbergehalt untersucht werden. Das hochgiftige Schwermetall ist eine der größten Bedrohungen für die Amazonasregion. Es stammt aus tausenden illegalen Goldgewinnungsanlagen, die es in die Flüsse leiten, wo es nicht abgebaut wird. In manchen Indio-Dörfern hat man bereits derart hohe Quecksilberkonzentrationen bei Kindern festgestellt, dass schwere Entwicklungsstörungen und ein frühzeitiger Tod absehbar sind. "Es kommen Babys mit sechs Fingern zur Welt", berichtet Trujillo. "Manche Indios haben Gedächtnisverlust und Nervenstörungen, sie können nichts mehr riechen und schmecken."

Rund 37.000 Rosa Delfine gibt es derzeit im Amazonasbecken. Die Bedrohungen nehmen zu . . .

Das Amazonasbecken beherbergt den größten Urwald der Erde und 20 Prozent der weltweiten Süßwasservorkommen. Aber es ist kein unberührtes Paradies mehr, sondern ein wachsender Wirtschaftsraum mit mehr als 30 Millionen Einwohnern. Diese konsumieren Energie, Nahrung, brauchen Infrastruktur und Arbeit.

Sympathieträger

Wissenschafter wie der US-Biologe Thomas Lovejoy und der brasilianische Klimatologe Carlos Nobre glauben nun, dass das Limit der menschlichen Expansion bald erreicht sein und das ökologische Gleichgewicht der Region kippen könnte. Sie sehen den Tipping Point bei 20 bis 25 Prozent Abholzung erreicht. Dann würde der komplexe Wasserkreislauf der Region versagen. Es hätte unvorhersehbare Folgen für ganz Südamerika.

Trujillo sieht den Flussdelfin daher auch als Chance, mehr Bewusstsein für die Bedrohungen zu schaffen. "Er könnte zum Botschafter des Amazonas werden", sagt er. Der Delfin sei ein Sympathieträger.

Trujillo, der mit seinem wilden Bart und Kopftuch wie ein Flusspirat wirkt, packt nun mit an, das gerade gefangene Exemplar auf eine Matratze zu wuchten. Sie soll das hohe Gewicht des Delfins abmildern, das auf seine Lunge drückt. Kaum liegt er, breiten Trujillo und seine Mitarbeiter nasse Handtücher über ihm aus, die sie ständig mit Wasser tränken.

Ultraschallsignale

Um das Tier zu beruhigen, bedecken sie auch seine Augen, die nur wenig größer als Stecknadelköpfe sind und kaum mehr als Schemen wahrnehmen. Zur Orientierung dient dem Amazonas-Delfin ähnlich wie bei Fledermäusen ein komplexes auf Ultraschall basiertes System. Aus seiner hohen Stirn sendet das Tier Schallsignale aus, deren Echo es mit den Rezeptoren im Unterkiefer auffängt und in Sekundenbruchteilen zu einem Bild seiner Umgebung zusammensetzt. So lokalisieren die Delfine ihre Beute aus Fischen.

Eine Mitarbeiterin Trujillos drückt auf eine Stoppuhr und ruft: "Zehn Minuten!" Es ist die Zeit, die das Team hat, um alle Operationen auszuführen. "Theoretisch könnten die Delfine auch sehr viel länger an Land aushalten", erklärt sie, "aber wir wollen sie nicht unnötigem Stress aussetzen." Sofort beginnt eine eingespielte Prozedur. Eine Veterinärin misst mit einem Stethoskop den Herzschlag des Delfins. "Im grünen Bereich", sagt sie. Dann beobachtet sie das Atemloch, das sich gerade öffnet und wieder schließt. Atmet der Delfin nicht mindestens drei mal pro Minute, steht er unter großem Stress und die Forscher müssen ihre Aktion frühzeitig abbrechen. Bisher aber lässt er die Prozedur entspannt über sich ergehen.

Bevor der schwierigste Teil kommt - das Anbringen des GPS-Senders -, wird der Delfin ausgemessen und sein Geschlecht bestimmt. Es ist ein Weibchen, 2,14 Meter lang. "Ganz schöner Brocken", ruft Trujillo begeistert. Dann entnimmt eine Biologin Sekretproben aus Maul, Atmungsloch, After und Vagina. Sie schneidet auch ein winziges Stück aus der Schwanzflosse des Tiers. Es wird dazu dienen, die Quecksilberbelastung festzustellen.

Auch kleine Delfine werden kurz an Land geholt, um Daten aufnehmen zu können.
© Lichterbeck

Unterdessen hat die Veterinärin drei Spritzen mit Betäubungsmittel in die Rückenflosse gepresst. "Man kriegt das Zeug kaum rein, so fest ist das Gewebe", sagt sie. Per Akkubohrer wird nun ein Loch in die Flosse gebohrt und Trujillo schraubt den GPS-Sender daran fest. Ab seiner Aktivierung wird er 280 Tage lang Koordinaten senden.

Für die Delfinkuh ist die Prozedur nun vorbei. Sie wird noch gewogen (180 Kilo!) und zurück zum Fluss gebracht. Da rufen die Fischer, die Trujillo engagiert hat. In ihrem Netz befindet sich ein zweiter, kleinerer Delfin. Trujillo entscheidet, ihn an Land zu holen, um die Daten aufzunehmen. "Wahrscheinlich ist es das Junge der Kuh", sagt er.

Die Arbeit muss schnell vonstattengehen, weil das Tier eine Minute lang nicht atmet und ängstlich quiekt. Bis Trujillo entscheidet, die Aktion abzubrechen. Ein Sender ist für Jungtiere ohnehin nicht vorgesehen, weil sie mit ihren Müttern unterwegs sind.

Als das Tier zurück zum Fluss getragen wird, winkt Trujillo einige Kinder herbei, die sich neugierig vom Ufer genähert haben. Sie gehören zu einer der armen Fischerfamilien, die entlang des Flusses leben. Trujillo animiert sie, das Delfinjunge zu berühren.

"Die Fischer", sagt Trujillo, "nennen die Delfine böse Tiere - animales malos -, weil sie ihnen die Netze zerreißen." Das lernten schon die Kinder und kriegen Angst. Das will Trujillo durch den Kontakt ändern.

Später an Bord eines der typischen Langboote, die in der Amazonasregion zum Nahverkehr dienen, erläutert Trujillo die Bedeutung des GPS-Projekts. "Wir wollen sehen, wie sich die Tiere innerhalb des riesigen Stromsystems bewegen", sagt er. Manche Tiere, insbesondere Männchen, könnten in jahrelanger Wanderung 1000 Kilometer zurücklegen.

Delfin-Tourismus

Die Weibchen seien hingegen sesshafter und in Rudeln zusammengeschlossen. Anhand ihrer Aufenthaltsorte möchten Trujillo und der WWF den Regierungen der sieben Amazonas-Anrainer Vorschläge machen, welche Regionen besonders schützenswert seien. "Wo die Delfine sich aufhalten, sind auch viele Fische", sagt er. "Und wo viele Fische sind, ist auch die Flussflora besonders in Ordnung."

Zwar würde er am liebsten ganze Flüsse unter Schutz stellen, aber das sei illusorisch, das mache keine Regierung. Trujillo sieht sich nicht als radikalen Umweltschützer, sondern als Realist. Man müsse den immer mehr Menschen in Amazonien vernünftige Entwicklungsmöglichkeiten geben. Denn letztendlich zerstörten sie durch den Raubbau an der Natur nur sich selbst.

Eine Idee ist der Aufbau eines Delfin-Tourismus. "Nicht gegen die Natur, sondern mit der Natur arbeiten", nennt Trujillo das. 2007 erhielt er den renommierten Whitley Award, den "Grünen Nobelpreis", und zuletzt war er Protagonist in dem herausragenden Dokumentarfilm "A River Below". Darin geht es um die Schwierigkeiten, mit denen Naturschützer bei dem Versuch zu kämpfen haben, die Interessen von Mensch und Umwelt zu versöhnen.

Umweltschützer, und doch Realist: Fernando Trujillo

Der WWF schätzt die Zahl der Rosa Delfine im Amazonasbecken auf 37.000. Deswegen hält Trujillo die Kategorie "Vom Aussterben bedroht", die von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) festgelegt wurde, für eine Stufe zu streng. "Ich würde die Delfine als ,stark gefährdete Art‘ einordnen", sagt er. Aber das könne sich wegen der vielen Bedrohungen schnell ändern.

Kraftwerke als Gefahr

Als eine der größten Gefahren nennt Trujillo die 124 Wasserkraftwerke der Region. Weitere 277 sind derzeit nach WWF-Informationen geplant. Sie zerstören große Waldflächen, unterbrechen die Verbindungen der Flüsse, führen zur Ansiedlung von Menschen in einem Radius von 40 bis 100 Kilometern. Es werden Straßen gebaut, die neue Rodungen nach sich ziehen. "Ohne die Bäume sterben auch die Flüsse", sagt Trujillo. "Sie versanden, werden flacher, die Wasserkreisläufe versagen, es wird trockener und die Reproduktionszyklen kommen zum Stillstand."

Trujillo nennt das Beispiel der Fische, die sich in der Regenzeit, wenn die Uferwälder überschwemmt werden, von den Früchten der Bäume ernähren und ihre Samen verbreiten. Eine weitere Gefahr für die Flussdelfine ist die Jagd. Tausende Exemplare wurden in den vergangenen Jahren getötet, um ihr fettes Fleisch als Köder beim Fang des Silberantennenwels’ zu verwenden, einem beliebten Speisefisch in Kolumbien.

Dann verbot die kolumbianische Regierung Ende 2017 seine Kommerzialisierung wegen zu hoher Quecksilberwerte. "Es war ein indirekter Sieg für den Flussdelfin", sagt Trujillo. Er erhielt damals Morddrohungen, weil er vor dem Quecksilber in den Fischen gewarnt hatte. Das passte der Fischindustrie nicht. "Der Amazonas ist immer stärker in der Hand von Konzernen", klagt Trujillo. Die Regierungen seien schwach oder abwesend. "Die Zukunft der Region ist unsicher."

Delfine als Götter

Am Abend kehrt Trujillos Team in die kleine Forschungsstation zurück, die in der Nähe des Städtchens Puerto Carreño liegt. Vier Delfine haben die Wissenschafter mit Sendern ausgestattet sowie drei Jungtiere registriert. "Es lief richtig gut", sagt Trujillo. Manchmal dauere es tagelang, um die Tiere überhaupt zu finden.

Die Dunkelheit bricht über den Orinoco herein und ein sternenklarer Himmel spannt sich auf. Feuer lodern auf der venezolanischen Seite des Flusses. Der Wald wird zur Jagd und Schaffung neuer Rinderweiden gerodet. Trujillo sitzt auf einem Uferfelsen und erzählt von den Legenden der Ureinwohner. Viele Indios im Amazonas verehren die Delfine als Götter, die in Städten auf dem Grund der Flüsse lebten. Es sind Ertrunkene, so erzählt man, die sich in Menschen zurückverwandeln könnten und manchmal an Land kämen. Trujillo selbst wurde von den Indios schon für so ein Wesen gehalten. Er sei zurückgekehrt, sagten sie, um den Menschen die Nachricht der Delfine zu überbringen.

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Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt zur Zeit in Rio de Janeiro und arbeitet als Journalist für verschiedene Printmedien.