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Die Brexiteers - dem Paradies so nah

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Beim Tory-Parteitag weht ein neuer, kalter Wind. Das Pro-Brexit-Lager ist zum Mainstream geworden.


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Birmingham. Wer in Birmingham vom Bahnhof zum Konferenzzentrum schlendert, kommt an einem riesigen Areal innerstädtischen Umbaus vorbei. "Paradise" nennt sich der Büro- und Einkaufskomplex, mit dessen Erstellung nun also "Geschichte gemacht" werden soll. Bunte Visionen der kommenden paradiesischen Zustände, mit glücklichen Menschen, prangen an den Abschirmungen. Was dahinter geschieht, sieht man nicht.

Ähnlich müssen sich viele Briten angesichts des Tory-Parteitags diese Woche in Birmingham fühlen. Staunenden Zaungästen werden paradiesische Zeiten für Britannien angekündigt. Die "große Freiheit" winkt. Der "Unabhängigkeitstag" steht vor der Tür. Wie in alten Tagen sollen wieder Handelsemissäre in alle Welt reisen, um anderen Völkern die gute Nachricht zu überbringen, dass das Vereinigte Königreich bald wieder "eine eigenständige, souveräne Nation" sein werde - und allzeit geschäftsbereit. Eine andere, lange verflossene, stolze Ära soll wieder aufleben auf der Insel. Allein der Gedanke an "eine unabhängige Handelsnation" treibt Handelsminister Liam Fox die Tränen in die Augen. "So stolz" sei er auf seine Landsleute und deren "historische Entscheidung" zur Abkoppelung von der EU. Nach dem Brexit-Beschluss hätten die Briten nun "eine wahrhaft glanzvolle Gelegenheit, Geschichte zu schreiben", ruft er bei seinem Auftritt auf dem Parteitag in den Saal hinein. Das hören die Delegierten gern. Noch mehr Begeisterung löst Fox mit den Worten aus, mehr als sonst jemand in der Welt hätten die Briten "das Recht, optimistisch zu sein" über die künftigen Handelsbeziehungen: "Schließlich haben wir das alles schon einmal erlebt!"

Eine Woge unbändiger Zuversicht, ein nostalgisches Glücksgefühl brandet durch die Hallen des Konferenzzentrums, unter dem blauen Banner der Tory-Partei. Die Nationalisten und Anti-Europäer unter den Konservativen, denen selbst Margaret Thatcher nicht radikal genug war, sehen sich fast am Ziel ihrer außenpolitischen Träume. Überall ist auf diesem Parteitag von der "endgültigen Befreiung" aus dem "schlimmen Griff" Europas die Rede.

Größtes Tabu Personenfreizügigkeit

Partei- und Regierungschefin Theresa May höchstpersönlich befeuert diese Gefühle. Von ihr, die während der Referendumskampagne noch für den Verbleib in der EU war, wusste man erst nicht so recht, welchen Kurs sie einschlagen würde. Inzwischen ist aber nicht nur klar, dass für May "Brexit Brexit bedeutet". Sondern auch, dass sie einen totalen Bruch mit der EU nicht zu scheuen scheint: "Wir treten ja nicht aus der Europäischen Union aus, nur um anschließend gleich wieder die Kontrolle über Zuwanderung aus der Hand zu geben. Und wir treten nicht aus, um uns gleich wieder der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs zu unterstellen." Migrationskontrolle und nationale Selbstbestimmung würden für sie vor allen Handelsbeziehungen mit der EU rangieren, beteuert sie. May hat sich also für einen "harten Brexit" entschieden. Erleichtert sagt Brexit-Minister David Davis, der lange schon einen solchen Kurs verfolgt: "Genau das ist es, wofür die Leute gestimmt haben. Dass alle Macht wieder bei den souveränen Institutionen unseres Landes liegt."

Alles andere, bekräftigen die Brexiteers, die mit einem Mal in der Partei obenauf sind, wäre "Betrug am Wähler". Kompromisse könne es nicht länger geben, ist überall zu hören. An "freiem Durchlass für Güter, Dienstleistungen und Kapital" sei London natürlich weiterhin interessiert, meint der EU-Parlamentsabgeordnete David Hannan: "Aber nicht an freiem Durchlass für Personen." Personen-Freizügigkeit ist tabu.

Einer der Chef-Brexiteers im Unterhaus, Bernard Jenkin, der Vorsitzende des parlamentarischen Verfassungs-Ausschusses, verlangt "einen raschen und sauberen Bruch" mit der EU: "Wir müssen bereit sein, notfalls auch ohne formelle Vereinbarung auszutreten." Zumindest könne Angela Merkel den Briten nun nicht mehr sagen, was Sache ist. "Take it or leave it" müsse die Parole sein, an die Adresse der Siebenundzwanzig: Nehmt unsere Bedingungen an - oder lasst uns endlich in Ruhe. Eine erstaunliche Stimmung hat sich des Tory-Parteitags bemächtigt. Politiker wie Fox und Davis, deren Karrieren vorüber schienen, geben plötzlich den Ton an und flanieren selbstbewusst durch die Korridore. Fox war vor einigen Jahren nach einem Skandal von David Cameron abgehalftert worden. Nun ist er ein Publikumsliebling.

Die moderaten Pro-Europäer dagegen, wie Cameron selbst und sein von Theresa May geschasster Adlatus George Osborne, haben sich - nach elf Jahren an der Parteispitze und ihrer katastrophalen Niederlage vom Juni - das Ticket nach Birmingham gespart. Sie lassen sich bei ihrer Partei lieber nicht mehr blicken. Dafür sind graugesichtige Veteranen der Parteirechten wie Ex-Minister John Redwood, die früher immer am Rand standen, nun mit einem Mal Repräsentanten des offiziellen Kurses. Redwood war noch in den 90er Jahren von John Major als "Bastard" beschimpft worden.

Keine Miene verziehen Leute wie Redwood bei gelegentlichen Fragen nach der Belastbarkeit der neuen Umbaupläne, nach der Umsetzbarkeit der Vision. Dass das Pfund dramatisch fällt, dass viele Unternehmer sich alarmiert zeigten wegen des "harten" Brexit, dass dem Finanzzentrum der Londoner City schwindelt und die Autoproduzenten mit dem Gedanken an Abwanderung spielen: für die feiernden Brexiteers lediglich "Schwarzmalerei".

"Imperialistischer Chauvinismus"

Auch, dass Mays Schatzkanzler Philip Hammond der britischen Wirtschaft ein paar "turbulente Jahre" voraussagt, kann sie nicht irritieren. Über Brexit-Minister Davis berichtet die "Times", er habe im kleinen Kreis den von Experten prophezeiten Verlust von 75.000 Stellen im Finanzsektor "einfach abgetan". Fürs Erste halten sich die Anti-EU-Hardliner jedenfalls daran, dass es bisher noch keine nennenswerten wirtschaftlichen Einbrüche gegeben hat. "Dabei sollten wir ja", höhnt Brexit-Wortführerin Therese Villiers, "inzwischen in der Asche der verbrannten Erde der Brexit-Apokalypse herumkriechen."

Tatsächlich räumte der Internationale Währungsfonds am Dienstag ein, dass er die Post-Brexit-Aussichten Großbritanniens "zu pessimistisch eingeschätzt" habe. Und dass die Briten heuer das höchste Wachstum unter den G7-Staaten verzeichnen würden. Skeptiker unter den Konservativen, die sich auf diesem Parteitag freilich kaum zu Wort meldeten, halten all das für eine kurzfristige Euphorie. Eine, die ein deutliches Wort nicht scheut, ist Ex-Wirtschafts-Staatssekretärin Anna Soubry. Sie nennt die Vorstellung von einem neuen Zeitalter britischer Größe durch Absonderung schlicht "wahnhaft". Und der ehemalige Innen-Staatssekretär Nick Herbert warnt vor der "unglaublichen" Naivität der Brexiteers in Handelsfragen: Die "konservativen Fundamentalisten", die nun das Sagen hätten, gäben sich "einer romantisierten Vision vom Britannien der 50er Jahre" hin oder hingen einem "imperialistischen Chauvinismus" an.

Mit der neuen Rückendeckung durch May glaubt die Regierungsriege, freie Bahn für eine demonstrativ anti-europäische Politik zu haben. Am Dienstag erklärte Verteidigungsminister Michael Fallon, die Regierung werde dafür sorgen, dass das britische Militär nicht mehr unter die Europäische Menschenrechtskonvention falle. Und Innenministerin Amber Rudd gab bekannt, dass sie unmittelbar den Zuzug von Arbeitern und Studenten von jenseits der EU-Grenzen erschweren und zugleich die Deportation unliebsamer EU-Bürger erleichtern wolle.

Dabei stand auch Rudd einmal auf der Seite der Pro-Europäer. Mittlerweile, stöhnen die Liberaldemokraten, seien die Tories stracks zurück auf dem Weg zur hässlichen und grundüblen Partei, zur "nasty party" im Königreich. So hatte Theresa May ihre Tories vor vielen Jahren einmal mahnend genannt.