Britische Rückzugsmanöver haben im vergangenen Jahrhundert immer Chaos hinterlassen - ein Überblick.
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Das Empire war auf Souveränität und Suprematie ausgerichtet. Koalitionen in Europa wurden wiederholt gewechselt, um außereuropäische Machtpositionen abzusichern. Das funktionierte bis 1919. Mit der Pariser Nachkriegsordnung konnten die globalen Anliegen noch gewahrt und zeitlich limitierte Völkerbund-Mandate übernommen werden. Das Empire hatte seine größte territoriale Reichweite erreicht. Sein Zenit sollte aber schon überschritten sein, weil nicht mehr alle besetzten Gebiete zu halten waren.
<!--[if gte mso 9]><![endif]--><!--[if gte mso 9]><![endif]--><!--[if gte mso 9]><![endif]--><!--[if gte mso 10]><![endif]-->Desaströser Rückzug aus Kleinasien
Die restriktiven Bedingungen des Friedensvertrags von Sèvres 1920 gegenüber dem nahezu toten Mann am Bosporus und die Bildung eines großgriechischen Reiches zulasten der Türkei konnte London nicht mehr durchsetzen. Der Sieger von Paris, Lloyd George, musste 1922 zurücktreten. Acht Monate dauerten die Verhandlungen 1923 über einen neuen Friedensvertrag mit Griechen und Türken in Lausanne. Praktisch alle territorialen Bestimmungen von Sèvres konnte die Türkei in ihrem Sinne revidieren. Gravierend war der vereinbarte Bevölkerungsaustausch von rund 500.000 Muslimen aus Griechenland und rund 1,5 Millionen Orthodoxen aus der Türkei, die in den jeweils anderen Staat umsiedeln mussten, obwohl sie Bürger der Herkunftsländer waren. Das führte mit britischer Billigung zu einem humanitären Katastrophenfrieden mit völkerrechtlicher Berufungsoption. Der Außenminister und Imperialist Lord Curzon sah in Lausanne "eine durch und durch schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert Jahre noch eine schwere Buße werde entrichten müssen".
Das griechisch-türkische Migrationsdesaster wirkt bis heute in dieser Region nach. Unterstützung für die Orthodoxen unterließ London mit seiner Neutralität in Rücksichtnahme auf die Muslime in der Kronkolonie Indien.
Katastrophaler Rückzug aus dem Fernen Osten
Für das Empire war Indien nach dem Kräfteverschleiß des Zweiten Weltkriegs nicht mehr haltbar. Im Juni 1947 gab der britische Vizekönig, Lord Mountbatten, einen Teilungsplan bekannt: Im August sollten Pakistan und Indien unabhängig werden und eigene Verfassungen haben. Die Fürstenstaaten, darunter Kaschmir, konnten sich für die jeweilige Zugehörigkeit entscheiden. Für den Punjab und Bengalen sollten Grenzkommissionen eingesetzt werden. Gandhi und Nehru waren gegen die Teilung, nahmen sie dann aber hin, um weitere Konflikte zu vermeiden.
Das Machtvakuum, das die Briten durch ihren überstürzten Rückzug hinterließen, nutzten einflussreiche Lokalfürsten, Geschäftsleute und Kommandeure für ihre Interessen, um sich Besitz und Land zu sichern. Die jeweiligen Minderheiten wurden Opfer von Gewalt, Raub und Mord mit rund einer Million Toten. Bis zu zwölf Millionen wurden auf beiden Seiten zur Flucht gezwungen. Die Teilung trug nicht zur Lösung der religiösen Konflikte bei, da nur zwei Drittel der Muslime in Pakistan lebten, ein Drittel jedoch in Indien verblieb. Das Verhältnis blieb konfrontativ und vergiftet. Beide Staaten wurden Atommächte und führten drei Kriege gegeneinander. Kaschmir blieb Streitobjekt.
Verhängnisvoller Rückzug aus dem Nahen Osten
Schon während des Zweiten Weltkriegs wurden in London eine Teilung Palästinas und ein Truppenabzug erwogen, weil die Mittel fehlten, um die dort stationierten Einheiten zu unterhalten. Die Regierung entschied sich 1947, das Gebiet der neu gegründeten UNO zu überantworten. Der von den USA und der UdSSR unterstützte Teilungsvorschlag eines Sonderausschusses wurde von der UN-Vollversammlung angenommen. Araber und Palästinenser lehnten ihn jedoch ab, was ein historischer Fehler war, denn diese Lösung sah mehr Territorium vor, als die Palästinenser jemals haben sollten. Am 14. Mai 1948 signalisierte London mit Auslaufen des Mandats seinen Abzug aus Palästina. Ben Gurion verkündete die Gründung Israels, die Moskau und Washington anerkannten.
Ägypten, Jordanien, der Irak, Syrien und der Libanon marschierten daraufhin mit ihren Armeen in vor allem arabisch besiedelte Gebiete ein, worauf Israel mit seinen neuen Streitkräften in Teile des ehemaligen Mandatsterritoriums vorrückte. Seine Unabhängigkeit konnte es mit Krieg und Vertreibung sichern. Eine Hinterlassenschaft des Empire ist der bis heute ungelöste weltpolitische Dauerkonflikt im Nahen Osten.
Fazit
So chaotisch, vertragsrechtswidrig und damit ungeordnet der Brexit von britischer Seite vollzogen werden mag, so kann jetzt schon der kommende Ausstieg als ein Kontrastprogramm im Vergleich zu den harten Rückzügen des 20. Jahrhunderts gesehen werden, zumal eine Seite recht gut aufgestellt ist: Die EU hat sich an ein korrektes, regelkonformes und rechtsgemeinschaftliches Verfahren gehalten. Sie hat sich als Staatenunion nicht ausspielen oder gar teilen lassen. Dagegen droht der Zerfall des United Kingdom als viel kleinere Union. Konnte London im Fernen und Nahen Osten Ballast abwerfen und Chaos vor Ort hinterlassen, droht nun desintegratives Chaos für das Vereinigte Königreich selbst.
Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hildesheim.