Wenn die Zeit reif ist, werden vergilbte Papiere zu Waffen der Freiheit. 1989 bekannte sich Ungarn zur Flüchtlingskonvention und sprengte die Gitter des "Völkerkerkers".
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Zu den folgenreichen Entscheidungen des ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh im Wendejahr 1989 gehörte die Unterzeichnung und Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie verbietet unter anderem die Ausweisung und Zurückweisung von politischen Flüchtlingen.
Die Praxis, Flüchtlinge sofort wieder dort abzuliefern, wo sie herkamen, gehörte jedoch zur Grundordnung des totalitären Systems des Ostblocks. Ungarn hatte entsprechende Verträge mit Rumänien, der DDR, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Unter solchen Bedingungen eine internationale Flüchtlingskonvention zu unterzeichnen, glich einem Hantieren mit offenem Feuer zwischen Pulverfässern. Ungarn tat es dennoch.
Den Auslöser gaben tausende rumänische Flüchtlinge ungarischer Abstammung, die nach Ungarn eingesickert waren und rechtlich in der Luft hingen. Sie zurückzutreiben wäre für die vom Reformgedanken Michail Gorbatschows angesteckte ungarische Führung nicht tragbar gewesen, andererseits hätte Einbürgerung oder Asylgewährung gegen die Abmachungen mit Rumänien verstoßen. Ungarns Premier Németh setzte auf internationale Absicherung, wohlwissend, dass dies einem Umsturz im osteuropäischen "Völkerkerker" gleichkam.
Im Sommer und Herbst 1989 war es so weit: Ungarn geriet mit der Nichtauslieferung der ins Land geströmten DDR-Flüchtlinge in Konfrontation zu den Ostberliner Machthabern.
Zur Zeit des sowjetischen Parteichefs Leonid Bresch-njew wäre diese Herausforderung möglicherweise mit Panzern entschieden worden - so wie 1968 in der Tschechoslowakei. Der Reformkurs Michail Gorbatschows, seine "Perestroika" und sein Bekenntnis zur Demokratie ließen einen derartigen Gewaltakt zwar nicht unmöglich, aber doch unwahrscheinlich erscheinen.
In seinen "Erinnerungen" vermerkt Gorbatschow seine letzte Begegnung mit Rumäniens Diktator Nicolae Ceausescu am 4. Dezember 1989. Er schildert ihn als stotternden Gesprächspartner, der in "panischem Schrecken" versuchte, die Veränderungen im kommunistischen Lager aufzuhalten. 18 Tage später wurde Ceausescu gestürzt und sodann exekutiert.
Die DDR hatte Gorbatschow anlässlich ihres
40. Gründungsjubiläums am 6. und 7. Oktober 1989 besucht. Der sowjetische Reformer empfand die DDR-Führung als Versammlung starrsinniger alter Männer. Sein oft zitierter Satz "Wer in der Politik zu spät kommt, den bestraft das Leben" fiel kurz vor seiner Rückreise aus Ostberlin. Er habe so gesprochen, "um den deutschen Freunden die in der Perestroika wirkenden Motive zu verdeutlichen".
Ungarn kam nicht zu spät, sondern hatte schon am 11. September um 0.00 Uhr die Grenzen nach Österreich für alle DDR-Flüchtlinge geöffnet, was die Ostberliner Parteiführer als Vertragsbruch und Menschenhandel klassifizierten.
Was in Ungarn wie im Zeitraffer in wenigen Monaten des Jahres 1989 ablief, fußte freilich auch auf einem älteren, ebenso brisanten Vertragswerk aus dem Jahr 1975: Die damals in Helsinki unterzeichnete "Schlussakte der europäischen Sicherheitskonferenz" war nach monatelangem Feilschen auch vom sowjetischen Parteichef Breschnjew unterschrieben worden. Sie enthielt außer der von den Sowjets gewünschten Unverletzlichkeit der Grenzen auch einen langen Passus über die "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit". Ein Stück Papier erwies sich 1989 als Falle mit Fernwirkung.