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Nordirland wurde ein Sonderstatus zuerkannt, als die Zuständigkeit des EuGH vereinbart wurde.
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Als sich nach langen Verhandlungen das Vereinigte Königreich zu Beginn des Jahres schlussendlich tatsächlich aus der EU verabschiedete und sich Premier Boris Johnson mit stolz geschwellter Brust für "seinen" Brexit feiern ließ, war bereits klar, dass die Sache noch nicht durchgestanden ist. Anfänglich noch von der Pandemie verdrängt, wurde im Lauf des Jahres rasch deutlich, dass sich der Brexit für die Briten doch nicht wie von ihnen erwartet zum großen Glücksfall entwickelt. Ganz im Gegenteil hat die Bevölkerung aufgrund von Arbeitskräftemangel mit Treibstoff- und Nahrungsmittelengpässen zu kämpfen, und neuerdings werden auch noch die Busfahrer knapp.
Zudem bereitet der britischen Regierung die Grenzsituation zwischen der Republik Irland als EU-Mitglied und Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs Kopfzerbrechen. Zur Wahrung des Karfreitagsabkommens und um Spannungen zu vermeiden, wurde im Brexit-Abkommen klargestellt, dass eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland unbedingt vermieden werden muss. Nun wundern sich die Briten aber, dass eine bloße innerstaatliche Verlegung der Zollgrenze auf die irische See schwere Einschränkungen im innerbritischen Handel mit sich bringt.
EuGH-Urteil für Gerichte rechtlich bindend
Einen weiteren Dorn im Auge bereitet Premier Johnson der Umstand, dass Nordirland auch insofern ein Sonderstatus zuerkannt wurde, als die Zuständigkeit des den Briten verhassten Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für den Landesteil vereinbart wurde. Wie ihm wohl bekannt, stellt die Gerichtszuständigkeit des EuGH für seine EU-Verhandlungspartner eine Grundvoraussetzung für den Zugang Nordirlands zum Europäischen Binnenmarkt dar.
Als Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union sorgt der EuGH dafür, dass EU-Recht in sämtlichen Mitgliedsstaaten gleich angewandt wird. Dabei können den Gerichtshof neben Mitgliedstaaten und Organen der EU insbesondere auch Einzelpersonen anrufen, wenn diese unmittelbar und individuell von EU-Recht betroffen sind. Im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens können dem EuGH rechtliche Fragen zur Auslegung vorgelegt werden. Ein vom EuGH gefälltes Urteil ist für die Gerichte dann rechtlich bindend.
Scheinbar in nationalistischen Gedanken an die Wiederauferstehung des "British Empire" versunken wollen die Briten die Zuständigkeit des Gerichts für Nordirland nun nicht anerkennen und drohen mit unilateralen Maßnahmen. Artikel 16 des Nordirlandprotokolls erlaubt den Parteien nämlich das Ergreifen einseitiger Schutzmaßnahmen bis zur Aussetzung des Protokolls, wenn die Einhaltung des Protokolls zu ernsthaften "wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Schwierigkeiten" führen könnte. Böse Zungen könnten behaupten, dass die Auswirkungen des Protokolls während der Brexit-Verhandlungen vorhersehbar waren. Und, dass die Briten die derzeitigen Umstände nutzen möchten, um der EU als bislang höchst geduldiger Verhandlungspartnerin weitere Zugeständnisse in Form einer Schwächung der Kompetenzen des EuGH für Nordirland herauszupressen. Vielleicht sollte man den ständigen Forderungen Einhalt gebieten?