Zum Hauptinhalt springen

Die Briten und der blau-weiß-rote Falter

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Was ist aus dem Traum der Brexit-Wähler vom Sommer 2016 geworden?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

London. In der Woche vor dem Brexit-Referendum, im Juni 2016, erschien die britische Zeitschrift "Spectator" mit einem Schmetterling auf der Titelseite. Das Insekt entfaltete seine Flügel in den Farben des Union Jack, in Blau-Weiß-Rot. Es erhob sich aus einem würfelähnlichen Kokon, dessen auseinanderfallende Seitenwände das Blau der EU und deren Sterne zierten. "Raus", schwärmte das Blatt, "und rein in die Welt."

Die Botschaft des für den EU-Austritt werbenden "Spectator" war damals jedem klar. Die lästige Hülle der Europäischen Union sollte der Schmetterling abstreifen, um sich in der weiten Welt neuer Ungebundenheit zu erfreuen. Es war eine Vorstellung, die viele Briten ansprach - zusammen mit der genialen Losung "Take back control": Ihr sollt wieder über alles selbst bestimmen. Bekanntermaßen siegten die Brexiteers ja dann auch beim Referendum, wenn auch nur knapp, mit 52 zu 48 Prozent.

Zweieinhalb Jahre später aber zuckt das hübsche Sinnbild neuer Zuversicht nur noch matt mit den Flügeln. Statt in der erträumten Freiheit landete der beschwingte Traum in einer Welt harscher Realitäten, im taghellen Licht der Ernüchterung.

In der Tat droht, was Brexit-Befürworter Boris Johnson seinen Landsleuten seinerzeit in schillernden Farben ausmalte, in diesem Winter für die Briten zu einem regelrechten Albtraum zu werden - falls sich ihre politischen Repräsentanten weiter auf nichts einigen können. Nicht nur plant die Regierung für den Fall der Fälle, Nahrungsmittel zu horten, Medikamente in Chartermaschinen einzufliegen, spezielle Polizeieinheiten zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Englands Straßen abzustellen und zum Schutz von Tankstellen reguläre Truppen aufzubieten. Von allen angesehenen Ökonomen und Finanzexperten des Landes haben sich die Briten auch sagen lassen müssen, dass jede Form von Brexit sie kurz- wie langfristig ein Vermögen kosten würde.

Visionen von neuer Größe

Banken und Großkonzerne haben aufgehört, über mögliche Gefahren zu lamentieren. Sie haben längst neue, profitable Ufer jenseits der Britischen Inseln ausgespäht. Auch Abgeordnete, die bisher betreten schwiegen, zeigen sich jetzt alarmiert. Sie wissen ebenfalls, dass beim Referendum von 2016 niemand dafür gestimmt hat, ärmer zu werden - geschweige denn dafür, in einem nationalen Notstand zu erwachen. Diplomaten raufen sich die Haare, weil ihr Land schon jetzt international an Ansehen und Einfluss eingebüßt hat, statt, wie versprochen, wieder "das große Britannien" zu werden, das es einmal war.

Visionen von neuer Größe spielten eine wichtige Rolle, als die Brexiteers 2016 zur Abkoppelung von der EU aufriefen. Eine Rückkehr zu den stolzen Freibeuter-Tagen der elisabethanischen Ära verhießen Politiker wie Johnson einer Wählerschaft, die der "Brüsseler Bürokraten", europäischer Integration und zugewanderter polnischer Handwerker müde war.

Nostalgie verfing vor allem bei älteren und konservativen Wählern. Was den Brexiteers überdies half, war die Tatsache, dass seit langer Zeit kaum je eine britische Regierung der Insel-Bevölkerung die Vorzüge britischer EU-Mitgliedschaft auseinandergesetzt hat. Der Begriff "Europa" war fast immer negativ besetzt. Er stand für politische Bevormundung, fremdländische Arroganz, unbegreifliche Sprachen, lästige Direktiven. "Europa" war schuld an allem, was schieflief im eigenen Land.

Eine hochpolitisierte Rechtspresse, wie sie kein anderes westeuropäisches Land kennt, hielt diese Vorstellung Tag für Tag am Leben. Boris Johnson selbst diente diesen Medien ja einst als Brüsseler Berichterstatter - und als unermüdlicher Fake-News-Produzent jener Zeit.

EU-Austritt als Vehikel

Als dann kurz vorm Referendum Flüchtlinge und Migranten nach Europa strömten, fiel es den Brexiteers leicht, interne Frustration auf ein externes Ziel zu lenken. Und an Frustration fehlte es in jenen Tagen keineswegs. Vielerorts brodelte Zorn gegen die eigene politische Elite. Schließlich hatte diese dem Land harsche Austerität und ein immer größeres soziales Gefälle beschert. Ausgerechnet Eton-Zögling und Premier David Cameron, taub für die Klagen der Bedürftigen im Lande, trat beim Referendum als Anwalt der Pro-EU-Seite an.

Seit dem Votum ist in Großbritannien viel darüber diskutiert worden, warum vor allem die benachteiligten Regionen des Landes für den Brexit gestimmt hatten. Globalisierung, kontinuierlicher Abbau der Industrie, Kreditkrise, Rezession und Camerons martialische Kürzung öffentlicher Mittel stellten die Weichen für das, was 2016 geschah.

Bezeichnenderweise lässt das Verlangen nach Trennung von der EU in den ärmsten britischen Regionen auch jetzt, zu Beginn 2019, nur zögernd nach - obwohl sich längst abzeichnet, dass diese Gebiete mehr als andere unter dem Austritt leiden werden.

Erst in jüngster Zeit sind einzelnen Brexit-Wählern, vor allem in Labour-Wahlkreisen, Bedenken gekommen. Dass ihre Entscheidung solche Konsequenzen haben könnte, wie sie sich nun anbahnen, hatte ihnen kein Brexiteer gesagt. Manche, die für die Trennung votiert hatten, haben sich seither auch nicht des Gefühls erwehren können, dass prominente Hardliner den Ausstieg aus der EU für ihren eigenen Feldzug gegen Steuern und Sozialstaat, gegen Umweltbestimmungen und Arbeitsschutz zu nutzen suchten.

Denn die härteste Fraktion der Brexit-Bannerträger rekrutiert sich bis heute aus Thatcheristen und Verfechtern freier Marktwirtschaft, für die der Austritt nur ein Vehikel war. Diese Politiker der Tory-Rechten hofften, mit der Abkoppelung von der EU ihre eigene Wirtschaftsideologie leichter durchzusetzen. Für sie sollte Brexitannien "das neue Singapur" vor den Küsten Europas werden: ein Billiglohnland, ein Magnet fürs große Geld aus aller Welt.

Auf desillusionierte Brexit-Wähler ebenso wie auf die ins Wählerregister nachrückende pro-europäische Jugend baut jedenfalls, wer dieser Tage auf ein zweites Referendum in Großbritannien hofft. Auch ein neues Votum würde allerdings die Klüfte im Land nicht schließen.

Spaltung allerorts

Denn gefährlich tief ist die britische Gesellschaft gespalten. Urbane, international geprägte, florierende Gebiete stehen den ländlichen und vernachlässigten Regionen, den alten Industriezonen, den sterbenden Seebädern gegenüber, in denen die Abneigung gegen die EU sich hartnäckiger als anderswo hält. Überall zeigt sich die Spaltung. Alt und Jung, Hauseigentümer und Besitzlose, trennt eine Kluft. Die keltischen Gebiete, die sich in der EU gut aufgehoben fühlen, sehen die Welt anders als jene Teile Englands, die mit Identitätsproblemen ringen. Schottische oder irische Nationalisten bieten englischem Nationalismus die Stirn - und umgekehrt. Lang vorhandene Gräben hat der Brexit zusätzlich vertieft.

Und das Vertrauen in die Politik ist weiter geschwunden. Nicht geholfen hat dabei die Art und Weise, in der Theresa Mays Regierung in den zweieinhalb Jahren den Brexit vorangetrieben hat. Schottland wurde komplett ignoriert, und in Nordirland mochte May nur auf die Brexit-fixierten Unionisten hören. Beide Teile des Königreichs hatten gegen Brexit gestimmt. Die beim Referendum unterlegenen 48 Prozent der Gesamtbevölkerung wurden derweil des "Verrats an der Demokratie" beschuldigt, wann immer sie Kritik übten an Mays kompromisslosem Kurs.

Statt nach einer versöhnlichen Lösung zu suchen, die das Land hätte zusammenbringen können und für die es durchaus eine parteiübergreifende Mehrheit im Unterhaus gegeben hätte, forcierte May die ihr von der Tory-Rechten vorgegebene Politik scharfer Konfrontation. Vor allem gelang es ihr, aus einem politischen Dilemma eine Verfassungskrise zu machen. Früh schon setzte die Premierministerin alles daran, dem Parlament echte Mitsprache vorzuenthalten.

Grauzone der Legitimität

Als die höchsten Richter des Landes den Volksvertretern beisprangen und ihrerseits in Teilen der Presse als "Volksverräter" denunziert wurden, ließ sich die Regierung mit ihrer Verteidigung der Justiz reichlich Zeit. Geleitet vom unbedingten Verlangen nach Abgrenzung und von ihrer privaten Interpretation des "Volkswillens", mochte sich May von Brexit-skeptischen Parlamentariern nicht dreinreden lassen. So verschärft war die Lage, dass eine Unterhaus-Mehrheit die Regierung an einem Punkt der "Missachtung des Parlaments" beschuldigte: Ein Vorgang, der in der Nachkriegsgeschichte beispiellos war.

Das Ringen hält an. Zwischen der Exekutive, der Volksvertretung und dem unkonventionellen Instrument des Volksentscheids, das auf der Insel nur beratenden Charakter hat, ist eine Grauzone der Legitimität entstanden, weil nirgends mehr politischer Konsens besteht. Besorgte Beobachter warnen schon davor, dass Großbritannien noch sehr lange mit diesen Problemen wird kämpfen müssen - egal, wie die Schlacht um den Brexit ausgeht.