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Die Büchse der Pandora

Von Edith Oltay

Europaarchiv

Die größte ungarische Regierungspartei, die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP), sorgt derzeit mit der Forderung nach Offenlegung aller KP-Akten für Aufregung. Denn unter den ehemaligen Mitarbeitern der verhassten KP-Staatssicherheit findet sich so mancher prominente Name. Der Vorstoß hat zahlreiche Gegner, für viele käme ein derartiger Schritt einem Öffnen der sprichwörtlichen "Büchse der Pandora" gleich.


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Ungarns Premier Ferenc Gyurcsany kündigte einen Gesetzentwurf an, der den brisanten Akten "eine möglichst breite Öffentlichkeit sichert". Zur Zeit haben nur Historiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Zugang zu den 120.000 Akten mit ihren drei Millionen Seiten. Immer wieder gelangen aber Unterlagen an die Öffentlichkeit, die Politiker und Prominente als Spitzel entlarven. So wurde etwa die Agententätigkeit des ehemaligen Premiers Peter Medgyessy aufgedeckt.

Der Umgang mit den etwa 100.000 ehemaligen Agenten, mehreren 10.000 früheren Staatssicherheitsoffizieren und ebenso vielen einstigen informellen Mitarbeitern im Einsatz gegen Dissidenten ist derzeit noch restriktiv geregelt. Ein "Durchleuchtungsgesetz" sorgt dafür, dass Abgeordnete und höhere Beamte auf eine eventuelle frühere Agentenvergangenheit hin überprüft werden. Viele als KP-Spitzel enttarnte Politiker und Spitzenbeamte weigerten sich allerdings - anders als es das Gesetz vorsieht - ihre Funktion niederzulegen. Als sicher gilt jedenfalls, dass in den Aktenstößen noch die unrühmliche Vergangenheit einiger Polit-Prominenten ruht und das Gesetz, sollte es beschlossen werden, für nicht wenige Persönlichkeiten gefährlich werden könnte.

Lautstarker Widerstand

Schon mehrmals hatte der liberale Bund Freier Demokraten in der Vergangenheit Gesetzentwürfe mit dem Ziel vorgelegt, große Teile der Geheimdienstakten öffentlich zu machen. Die Vorhaben scheiterten jedoch regelmäßig am Widerstand von Politikern und Fachleuten. Ähnliche Proteste regen sich auch jetzt: Der ungarische Datenschutzbeauftragte argumentiert, eine Offenlegung verletze die Persönlichkeitsrechte der Überprüften. Sicherheitspolitiker warnen, die Veröffentlichung des gesamten Beziehungssystems des ungarischen Geheimdienstes hätte katastrophale Folgen für die noch aktiven Agenten. Andere weisen darauf hin, dass die Agentenliste ohnehin nicht vollständig ist, weil Dokumente vernichtet wurden oder verschwunden sind. Die größte Oppositionspartei, der Bund der Jungen Demokraten Fidesz, unterstützt die Offenlegung, fordert aber zugleich konsequent den Ausschluss von ehemaligen Agenten aus öffentlichen Ämtern. Da die Regierungsparteien weitere Sanktionen gegen Ex-Agenten ablehnen scheint die Möglichkeit einer Einigung mit Fidesz gering.

Unabhängig von der teils mangelnden Überzeugungskraft der Argumente zeigen die Proteste Wirkung: Die Regierung scheint von der ursprünglich vorgesehenen vollständigen Offenlegung abgerückt zu sein. Nunmehr sollen nämlich nicht alle Staatssicherheitsakten sondern nur noch die Namen der Agenten und Verbindungsoffiziere zugänglich gemacht werden.

Die Debatte zeigt, wie schwierig der Umgang mit der Historie in postkommunistischen Ländern ist. Ungarns Nachbarn entschieden sich zur Bewältigung der Vergangenheit früherer Geheimdienstmitarbeiter für Regelungen, die von der weitgehenden Freigabe der Namen ehemaliger Agenten (Tschechien) bis zur Beschränkung auf die Einsichtnahme in die jeweils persönliche Akte (Slowakei) reichen.