In der Steiermark hat die FPÖ erneut besonders hohe Zugewinne eingefahren.|Protest gegen die Landesregierung? Gegen die EU? Gegen Wien? Eine Antwortsuche.
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Graz. Wenn Ingrid Groß von ihrer Gemeinde erzählt, dann klingt das beinahe nach Familie. Sie kenne fast alle 4000 Einwohner in Sinabelkirchen im Bezirk Weiz persönlich, sagt Groß. Vor einem Jahr übernahm sie das Bürgermeisteramt, bei der letzten Gemeinderatswahl erhielt ihre Partei, die SPÖ, 54,72 Prozent der Wählerstimmen.
Als vor einigen Wochen Sinabelkirchen unter Wasser stand, hat sich wieder der Geist der Gemeinde gezeigt. "Alle haben mitgeholfen", erzählt sie. Binnen zehn Tagen war das Freibad geräumt und gereinigt, die Feuerwehren aus den umliegenden Ortschaften halfen mit, Jugendliche befreiten einen Zaun vom Schlamm, schaufelten Schotter. "Und kein Einziger hat geschimpft, so viele haben gefragt, ob sie helfen können", sagt Groß. "Hut ab." Am Sonntag stimmten dann 40 Prozent für die FPÖ, doppelt so viele wie 2009.
Schon bei der Nationalratswahl ist Sinabelkirchen auf einmal blau gewesen, nun ist die Umfärbung sogar noch deutlicher ausgefallen. "Es macht mich sehr nachdenklich, warum so viele auf diese Seite gehen." Ingrid Groß steht vor einem Rätsel. Und damit ist sie nicht allein. Eigentlich kann niemand so recht erklären, warum die Steiermark derzeit so wählt, wie sie wählt, und im Bezirk Weiz heißt das vor allem: freiheitlich.
Vorzeigemodell Sinabelkirchen
Auf der Suche nach Erklärungen, warum die FPÖ in der Steiermark derart massive Zugewinne verzeichnet, landet man schnell bei Schlagworten, die die politische Diskussion in der Steiermark seit Jahren prägen: Reformpartnerschaft, Gemeindefusionen, Strukturwandel, Abwanderung.
Doch mit diesen Schablonen kommt man in Sinabelkirchen nicht weit. "Die Gemeindefusion hatten wir schon 1968", sagt Groß. "Damals hatten wir fünf Feuerwehren und die haben wir heute noch. Wir sind ein Vorzeigemodell, was man zusammen erreichen kann."
Das Vereinsleben ist rege, die Arbeitslosigkeit lag 2011, inmitten der Krise, bei 3,4 Prozent. Und Sinabelkirchen ist auch nicht von Abwanderung betroffen, im Gegenteil: Die Gemeinde wächst, und sie hat auch neue Betriebe anlocken können, der Ausländeranteil ist sehr niedrig.
Warum also gedeiht gerade in diesem Umfeld eine so massive Unzufriedenheit, dass am Wahltag dem Protest in Form einer Stimme explizit nicht für die SPÖ oder ÖVP Ausdruck verliehen wird? In Sinabelkirchen haben nämlich auch die Grünen überproportional hohe Zugewinne von beinahe zehn Prozentpunkten verzeichnet, die Wahlbeteiligung lag dafür unter 40 Prozent.
Kaum Rückschlüsse möglich
Wenn Klaus Poier, Politikwissenschafter der Karl-Franzens-Universität Graz, auf die Suche nach den Ursachen geht, kommt auch er nicht wirklich weit. Vor allem, wenn es darum geht, aus dem steirischen Ergebnis bei der EU-Wahl Rückschlüsse auf die Landtagswahlen im kommenden Jahr zu ziehen: "Diese Frage wird man wirklich erst nächstes Jahr beantworten können."
Eines lässt sich angesichts der beiden jüngsten Ergebnisse in der Steiermark jedenfalls schließen: Es ist so ziemlich alles denkbar bei der Landtagswahl 2015.
"Es sind zwei Interpretationen möglich", sagt Poier. "Die eine ist, dass Reformen passieren und die Menschen deshalb angefressen sind. Die zweite ist, dass diese Reformen die politische Landschaft derart prägen - und es passiert ja auch sehr viel -, und dass genau deshalb ein Kontrast zur Bundespolitik wahrgenommen wird."
Gründe für Unzufriedenheit sind also doppelt vorhanden, die einen reiben sich an den Reformen im Bundesland, die anderen an den Nicht-Reformen auf Bundesebene. "Und klar ist", sagt Poier, "dass das dritte Lager in der Steiermark immer sehr stark war. Und von Höchstwerten unter Jörg Haider ist die FPÖ immer noch recht deutlich entfernt." 1996 hatte die FPÖ bei der EU-Wahl in der Steiermark 28,9 Prozent erreicht, allerdings waren ÖVP und SPÖ damals noch stärker als heute.
"Wenn man mit den Menschen spricht, hört man immer wieder, dass sie nichts mit der EU zu tun haben wollen", sagt Bürgermeisterin Groß. Auch wenn Sinabelkirchen zu den EU-Regionalfördergebieten in der Steiermark gehört, ist Brüssel hier, im Osten des Bundeslandes, sehr weit weg. "Es gibt so viele Kriterien", sagt Groß leise seufzend. Nicht immer passen diese Anforderungen zu den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung. "Und dann muss man entscheiden, ob man es mit oder ohne Förderung macht."
Mehr Dynamik
Allerdings zeigte sich auch ganz ohne EU-Thematik, bei den Nationalratswahlen im Vorjahr, dass die politische Landkarte in der Steiermark bunt geworden ist. Es ist das einzige Bundesland, in dem vier Parteien in mindestens einem Wahlbezirk die relative Mehrheit stellen. Bei den Landtagswahlen ist dann noch zusätzlich mit der KPÖ zu rechnen.
Freilich ist die Steiermark auch strukturell und wirtschaftlich divers. Die industriell geprägte, stark konjunkturabhängige Obersteiermark mit einer relativ hohen Arbeitslosenquote, der Westen, der stärker touristisch ist, der strukturschwache Südosten und Südwesten und der boomende Grazer Raum. Und gerade dort, wo die Arbeitslosigkeit niedrig ist, ist die FPÖ besonders stark, während die Stadt Graz mit der höchsten Arbeitslosenquote mehrheitlich Grün wählte.
"Es gibt hier sicher mehr Dynamik als anderswo, auch in der politischen Diskussion", sagt Poier. Es ändert sich viel in der Steiermark, auch weil sich viel ändern muss, weil es der Strukturwandel nötig macht. "Und Veränderung ist eben auch immer eine Sache von Unsicherheit", sagt Poier.