Zum Hauptinhalt springen

Die Chance auf Einigung lebt

Von Martyna Czarnowska, Brüssel

Europaarchiv

Schien der Abschluss der Verhandlungen über die europäische Verfassung gestern greifbarer als eine Einigung auf einen neuen EU-Kommissionspräsidenten, konnten am ersten Gipfeltag doch nicht alle Differenzen ausgeräumt werden. Mit den von der irischen Ratspräsidentschaft präsentierten Vorschlägen zeigten sich die meisten Staaten zwar überwiegend einverstanden. Umstritten blieb aber unter anderem das System der Mehrheitsfindung im EU-Rat.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der gute Wille war da. Und das war das erste, das immer betont wurde. Denn eine Einigung zur europäischen Verfassung konnten die EU-Staats- und Regierungschefs am ersten Gipfeltag noch nicht verkünden. Doch der Weg dahin sei vorgegeben, zeigte sich der irische Premierminister und EU-Ratsvorsitzende Bertie Ahern zufrieden. Auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer und Frankreichs Präsident Jacques Chirac hielten eine baldige Lösung für möglich.

Ebenso hielt sich Polen, das gemeinsam mit Spanien das System der "doppelten Mehrheit" abgelehnt und damit zum Scheitern des Gipfels im Dezember beigetragen hatte, mit dem Verbreiten von Negativszenaria zurück. Die irische Ratspräsidentschaft ist den Wünschen der beiden Staaten entgegengekommen und hat die Prozentzahlen erhöht: Um eine Entscheidung im EU-Rat zu fällen, sind künftig 55 Prozent der Mitgliedstaaten notwendig, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Zuvor waren die Schwellen bei 50 beziehungsweise 60 Prozent angesetzt. Das Instrument einer Sperrminorität wurde ebenfalls eingebaut: Nicht weniger als vier Staaten können einen Entschluss zu blockieren. Offen war vorerst, ob diese vier Staaten zumindest 12 oder 15 Prozent der Bevölkerung repräsentieren sollten.

Polen sei ein "Sicherheitsmechanismus" wichtig, erklärte denn auch der designierte Ministerpräsident Marek Belka - nicht, um ein Veto einlegen zu können, sondern um "die weitere Arbeit an einem Konsens zu ermöglichen". Der Verweis auf christliche Wurzeln in der Präambel der Verfassung sei Polen ebenso ein Anliegen. Allerdings hat die Ratspräsidentschaft dies in ihrem Entwurf nicht vorgesehen. Österreich hat stattdessen die Kompromissformel "in Verantwortung vor der Schöpfung und den Menschen" vorgeschlagen.

Weniger Kommissare

Auf Zustimmung unter den Gipfelteilnehmenden stieß der Plan, die Zahl der Abgeordneten pro Land zu erhöhen, "um auch den Bedürfnissen der kleinsten Staaten entgegenzukommen". Mindestens sechs Personen soll künftig jedes Land ins Parlament nach Straßburg entsenden können. Die Zahl der Abgeordneten könnte auf 745 oder 750 wachsen.

Verringert werden soll wiederum die Zahl der EU-Kommissionsmitglieder. Ab 2014 soll sie 18 Personen betragen. Ein "strikt egalitäres Rotationsprinzip" soll zudem eingeführt werden. Vor allem kleinere Staaten - unter anderem Österreich - konnten sich offenbar nicht mit ihrer Forderung "ein Kommissar pro Land" durchsetzen. Dazu hätte es eine "sehr intensive und kontroversielle Diskussion gegeben", meinte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Zehn der 25 Länder hätten Österreichs Position geteilt.

Die Rolle der EU-Kommission als Kontrollorgan bei der Einhaltung des Stabilitätspaktes fällt wohl geringer aus, als ursprünglich vorgesehen. Deutschland wehrt sich nämlich gegen den Plan, dass die EU-Kommission einen Vorschlag zur Einleitung eines Defizitverfahrens machen darf - eine weniger verbindliche Empfehlung wäre Berlin lieber. Nur Empfehlungen soll die EU-Kommission auch zu den Maßnahmen in Zusammenhang mit dem Defizitverfahren liefern.

Bis heute könnten die Gespräche über die Verfassung abgeschlossen werden - wenn auch die Ratspräsidentschaft offiziell kein Ende angegeben hat. Doch selten war der Erfolgsdruck so groß. Denn nach rund zweieinhalb Jahren Arbeit an dem Dokument und dem Desaster der Europawahlen, an denen nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten teilgenommen hatte, muss die EU wieder etwas vorweisen.