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Fastenzeit und Quarantäne haben die gleiche Wurzel.
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"Heute geh’n wir gar nicht raus, wir bleiben im Pyjama z’haus." Wer hätte gedacht, dass der März 2020 Österreich die Umsetzung dieser Zeilen in die Praxis bescheren würde? Getreu dem Song "Columbo" der österreichischen Band Wanda spielt sich das Leben vieler Zeitgenossen weitgehend in den eigenen vier Wänden ab.
Unsere Bussi-Bussi-Gesellschaft hat ein jähes Ende gefunden. Statt Nähe Abstand, statt Berührung Kommunikation auf Distanz. In Österreich fällt die Zeit des gegenwärtigen Kampfes gegen das Coronavirus zufällig fast auf den Tag genau mit der Fastenzeit zusammen. Am 25. Februar, Faschingsdienstag, kam aus Innsbruck die Nachricht, dass erstmals in Österreich zwei Personen positiv auf den neuen Erreger getestet wurden. Bis 13. April, Ostermontag, gelten vorläufig die von der Bundesregierung mit Zustimmung der Oppositionsparteien verhängten Maßnahmen.
Die Fastenzeit dauert bekanntlich, wenn man die Sonntage nicht mitzählt, 40 Tage. Diesen Zeitraum bezeichnet auch der aus dem Französischen kommende, auf das lateinische Wort "quadraginta" zurückgehende Begriff "Quarantäne", der jetzt in aller Munde ist. Er kam im 14. Jahrhundert auf, als die Pest in Europa wütete. Damals begann man damit, Personen, die eine Ansteckungsgefahr darstellen konnten, für eine bestimmte Zeit zu isolieren. Dass dafür 40 Tage üblich wurden, mag auch daran liegen, dass der Zahl 40 schon in den ältesten Kulturen (Mesopotamien, Ägypten) und in der Bibel eine besondere Bedeutung zukam.
40 Tage Regen führten zur Sintflut, 40 Tage verbrachte Mose am Berg Sinai, 40 Jahre wanderte das Volk Israel durch die Wüste. Bei den Juden galt eine Frau nach der Geburt eines Sohnes 40 Tage als unrein. Die Fastenzeit wurzelt darin, dass Jesus vor Beginn seines öffentlichen Auftretens 40 Tage fastete. Auf die kirchlichen Hochfeste folgte traditionell eine 40-tägige Festzeit: von Weihnachten bis Maria Lichtmess (2. Februar), von Ostern bis Christi Himmelfahrt (heuer am 21. Mai).
Eine Quarantäne von heute dauert in der Regel nicht 40, sondern nur 14 Tage, aber schon das ist für viele eine enorme Herausforderung. Geduld ist keine gängige Tugend einer "Ich will alles und das sofort"-Gesellschaft. Wir sind gewohnt, dass alles jederzeit verfügbar ist. Viele tun sich schwer damit, mehrere Tage allein zu sein oder auf die sozialen Kontakte mit der engsten Familie, mit wenigen Mitbewohnern zurückgeworfen zu sein. Dabei bieten gerade die modernen Kommunikationsmittel Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Und es fehlt jetzt auch nicht an Zeit, um via Chat oder Telefon mit Menschen in Verbindung zu treten, die einem etwas bedeuten.
Krise als Weckruf
Theoretisch könnte und sollte die Fastenzeit jedes Jahr eine Phase der Entschleunigung sein. Sie ermöglicht ein Innehalten in unserem modernen Leben, in dem wir uns – zumindest bis vor kurzem – nicht nur im Beruf, sondern auch in der Freizeit wie im Hamsterrad von Termin zu Termin hetzten oder hetzen ließen. Man kann diese Krise als Weckruf – von wem auch immer, das hängt von der Weltanschauung ab – interpretieren. Sie bietet viele Chancen, die es zu nutzen gilt.
Zu Recht wird gegenwärtig vor allem die Chance zu einem neuen Miteinander angesprochen. Im Grunde ist es logisch, dass Krisen am schnellsten und besten durch Solidarität und Kooperation bewältigt werden – in den Familien, zwischen den Generationen, über die Grenzen von Parteien und sozialen Schichten hinweg. Natürlich müsste die Parole für alle lauten: Viribus unitis gegen das Virus!
Dass diese Haltung noch keineswegs selbstverständlich ist, hat sich leider auf verschiedenen Ebenen gezeigt. Wie schwer man in der EU zu einer einheitlichen Linie findet, weiß man schon von anderen Problemen (Flüchtlinge, Klimawandel), nun auch durch die Coronakrise. Aber auch in Staaten wie Deutschland gingen die einzelnen Regionen bis zuletzt eigene Wege. In Österreich macht die Bundesregierung in vorbildlicher Einigkeit einen guten Job, Versäumnisse dürfte es freilich, vor allem in Tirol, auf Landesebene gegeben haben. "Koste es, was es wolle" ist im Dienst an der Gesundheit und der Erhaltung von Arbeitsplätzen ein zu begrüßender Satz, aber nicht als unausgesprochene Parole, um den Tourismusbetrieb in Risikoregionen noch ein paar Tage länger aufrecht zu halten.
Die Coronakrise bietet die Chance, viel zu lernen – in der Wissenschaft, in der Politik, in der Welt der Medien und der sozialen Beziehungen. Sie vermag zu einer längst fälligen Scheidung der Geister zu führen, zur Erkenntnis, was falsch und was richtig ist. Es fällt gar nicht schwer zu unterscheiden, welche Medien korrekte, nachvollziehbare Nachrichten liefern und wer, vornehmlich im Internet, "Fake News" oder dubiose Verschwörungstheorien in Umlauf setzt.
Eine erste politische Lehre wäre, dass Staaten oder zumindest Kontinente imstande sein müssen, sich im Notfall selbst mit den erforderlichen Gütern zu versorgen. Einigermaßen wache Menschen können erkennen, welche Politiker sich durch positive Leadership oder hilfloses Herumrudern bemerkbar machen. Zu kritisieren ist es, wenn Länder die Lieferung von Schutzmasken und weiterem Equipment in weitaus stärker betroffene Regionen erschweren. Von einem Skandal, den die EU nicht tolerieren dürfte, muss man sprechen, wenn sich ein Politiker wie Viktor Orban in Ungarn auf unbestimmte Zeit diktatorische Vollmachten sichern will. Sollte es stimmen, dass US-Präsident Trump ein an einer Corona-Impfung arbeitendes deutsches Institut kaufen wollte, um dessen Forschungsergebnisse exklusiv für die USA zu sichern, wäre das ein ausgesprochen unanständiges Angebot.
Zum Glück gibt es aber, vor allem auch seitens der Zivilgesellschaft, ungeheuer viele positive Initiativen. Die überwältigende Mehrheit akzeptiert und befolgt die verhängten Maßnahmen. Einzelne – oft gar nicht gut bezahlte – Berufsgruppen leisten in diesen Wochen Übermenschliches. Künstler, Wissenschafter, Menschen des öffentlichen Lebens treten mit informativen, kreativen, ermutigenden Botschaften in den sozialen Medien auf. Die Chance, das neue Miteinander für einen grundsätzlichen Wandel von einer hektischen, oft narzisstisch geprägten Konsum- und Freizeitgesellschaft zu einer Gemeinschaft solidarischer, teamfähiger Menschen zu nutzen, wird vielfach angesprochen.
Bis Christi Himmelfahrt?
Es wird vermutlich länger als 40 Tage dauern, bis diese Krise bewältigt ist. Auch in Österreich, das relativ früh die Zeichen der Zeit erkannt und gut reagiert hat, wird wohl nicht am Ostermontag, sondern vielleicht erst weitere 40 Tage später, zu Christi Himmelfahrt, das Ärgste vorüber sein. Wenn aber die Menschheit Corona überwunden hat, sollte sie sich auch mit einem neuen Spirit den weiter drängenden Problemen der Migration und des Klimawandels widmen, orientiert an humanen und wissenschaftlichen Konzepten, nicht an populistischen Parolen von gestern.
Gerade der Klimawandel, der nun durch den Rückgang des öffentlichen Verkehrs zu Lande, zu Wasser und in der Luft eine Verschnaufpause erhalten hat, wird nur durch eine langfristige Änderung unseres Lebensstils, nicht durch eine vorübergehende Quarantäne zu bremsen sein.
Im Wanda-Song heißt es: "Am Ende fällt Columbo etwas ein." Und: "Es wird eine schöne Lösung sein." Wir alle können und sollen uns jetzt viel für die Zeit nach Corona einfallen lassen – für uns, unsere Liebsten, unsere Gesellschaft und unseren Globus. Wenn sich ein winzig kleines Virus innerhalb weniger Wochen auf der ganzen Welt ausbreiten kann, warum sollten sich nicht neue gute Ideen ebenso schnell weltweit durchsetzen können?
Heiner Boberski, geboren 1950, lebt als Journalist und Sachbuchautor in Wien.