Dort liegen einige der größten Künstler der USA und auch Österreichs begraben.
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New York. Die Fahrt ins Reich der Toten dauert eine dreiviertel Stunde, sie führt vorbei an Baseballstadien, Billigeinkaufsmeilen, Autowerkstätten und Sozialwohnbauten, vielen Sozialwohnbauten. Die U-Bahn-Linie 4 durchschneidet die Bronx von Süden nach Norden, jenen Stadtbezirk, in dem, Zero Tolerance hin, Gentrifizierung her, noch immer mehrheitlich die New Yorker leben, die arbeiten, aber trotzdem am Monatsende oft ihre Miete nicht zahlen können.
Der letzte Halt der Linie 4 entlässt den Fahrgast in eine Welt, die kaum etwas mit dem Bild der Stadt zu tun hat, das sich Besucher gemeinhin von ihr machen: ein Übergangsraum zwischen Stadt und Land, zwischen der Peripherie der Metropole und der Provinz, auch zwischen Armut und Reichtum. Ein paar Meter die Hauptstraße gegenüber der U-Bahn-Station weiter beginnt Westchester County, wo viele Herren der Wall Street ihre Wochenendhäuser und ehemalige Präsidenten ihr Golfspiel pflegen. Wer sie überquert, dem erschließt sich der Blick auf die Hügel Woodlawns, nach denen die letzte Ruhestätte von rund 300.000 Menschen benannt ist. Der Woodlawn Cemetery ist weder der größte noch der berühmteste von New Yorks Friedhöfen, obwohl hier eine Vielzahl so prominenter wie tatsächlich bedeutender Leute begraben liegt. Vielleicht hat ihn im Land der Superlativen dieser Umstand davor bewahrt, von den Massen entdeckt zu werden.
Wie Schrebergartenhäuser
Auch wenn sich das seit seiner jüngst erfolgten Ernennung zum "National Historic Landmark" langsam ändert. Die Wirkung des Titels ist nicht zu unterschätzen. Er verspricht immerwährende Aufmerksamkeit in Form von Gratiswerbung in Touristenbroschüren, landesweite Berichte in Funk und Fernsehen anlässlich von Jubiläen, Geld aus Washington für den Erhalt und die Pflege. Für einen Stadtbezirk, den Besucher wegen seines aus den 70ern und 80ern bis heute tradierten Images meiden - auch wenn die brennenden Häuser und kriminellen Gangs der Vergangenheit angehören -, ein kleiner Segen.
Wer heute das steinerne Eingangstor passiert, bekommt von einem aufmerksamen Wächter eine Karte in die Hand gedrückt, die den Weg zu den berühmtesten der berühmten hier Begrabenen weist. Der Wegweiser teilt die Toten in Fachgebiete ein, in denen der oder die jeweilige zu Ruhm und/oder Reichtum gekommen ist. Finanzjongleure, (Real-)Wirtschaftskapitäne, Generäle, Wissenschafter, Erfinder, Sportler, aber vor allem: Künstler, die in der Geschichte der USA unauslöschliche Spuren hinterließen.
Wem immer einer auch die Ehre erweisen will, er muss zunächst die Central Avenue hinunter, die den Friedhof in einer unregelmäßig verlaufenden Nord-Süd-Achse durchzieht. Auch wer nur mal schnell seinen hier ruhenden Onkel besuchen will, muss sich Zeit nehmen. Woodlawn ist groß: 1,6 Quadratkilometer, halb so groß wie der Central Park. An Obelisken, die sich in lichte Höhen strecken, reihen sich Gräber so groß wie Schrebergartenhäuser, und wäre das Innere der Bauten begehbar, könnte man sie wirklich als solche nutzen.
Es hat sich in Woodlawn so manches an Irrsinn angesammelt seit seiner Eröffnung im Jahr 1863, als die USA mitten in einem Bürgerkrieg steckten und die Boomstadt New York Platz schaffen musste, für ihre Bewohner und die toten Soldaten, für die Unionisten wie für die Konföderierten. Einzig eines blieb über die Jahrhunderte gleich: Wessen Familie es sich leisten konnte, der sorgte dafür, dass sein Andenken nicht nur für deren kommende Generationen, sondern für die Allgemeinheit sichtbar blieb.
Der Abschnitt heißt I-2, der Name des Teils des Friedhofs, in dem der Virtuose in einem vergleichsweise bescheidenen Mausoleum ruht, hört auf den schönen Namen "Butternut". Fritz Kreisler, geboren am 2. Februar 1875 in Wien, Sohn eines jüdischen Vaters und einer deutschstämmigen Mutter, gestorben und begraben 1962 in New York. Dazwischen lag eine Karriere als Geigenzauberer und Komponist, die ihm auf beiden Seiten des Atlantiks Ruhm und Anerkennung einbrachte. Auch weil er die Gefährlichkeit der Nazis gerade noch rechtzeitig erkannt hatte und sich 1938 nach Stationen in Berlin und Frankreich in Sicherheit gebracht hatte, nach New York City.
Miles Davis und die CDs
Bereits drei Jahre vorher hatte es ein anderer Österreicher hierher geschafft, und wie Kreisler sollte er in den USA zur Berühmtheit werden und nie wieder zurückkehren. Auf dem Plan ist sein Name nicht zu finden, aber eine Internetrecherche verrät die Nummer seines Grabs (5799). Otto Ludwig Preminger, 1905 bis 1986, obwohl er sich zeit seines Lebens mit den Filmstudio- und Broadway-Bossen anlegte, erfolgreicher Regisseur, -produzent ("Laura", "Porgy und Bess") sowie Gelegenheitsschauspieler (er spielte etwa den Mr. Freeze in der 60er-Jahre-Fernsehserie "Batman"). Die Menschen haben ihn nicht vergessen. Unter dem Eintrag im Web finden sich über hundert Glückwünsche zum 106. Geburtstag, den Preminger am 5. Dezember 2011 gefeiert hätte.
Ein Stück zurück, ein paar Schritte die Central Avenue hinauf. Auf dem Rasen vor dem massiven Marmorstein des Mannes, den sie den "dunklen Prinzen" nannten, liegen Schnittblumen und drei CDs. Allesamt billig produzierte Aufnahmen, Marke Eigenbau. Die Chance, dass sie Miles Davis zu hören bekommt, stehen schlecht. Aber hilft’s nichts, so schadet’s auch nichts, dürften sich die Musikanten gedacht haben, die sie dorthin gelegt haben, in der Hoffnung, dass ihnen die Opfergabe an die 1991 verstorbene Jazzlegende Glück bringe. Wie die, die ihre Erzeugnisse bei seinen unmittelbaren Nachbarn deponieren, ein Name größer als der andere: Duke Ellington. Max Roach. Celia Cruz, die "Königin des Salsa". William C. Handy, den sie den "Vater des Blues" nannten.
Vielleicht liegt es an der subtilen Qualität ihrer Musik, vielleicht auch daran, dass es schwarzen Amerikanern und Latinos nicht einfiele, ihre toten Helden auf eine weniger würdevolle Art zu ehren. Exzesse, wie sich bis Ende des vorigen Jahrhunderts etwa noch am Pariser Père Lachaise abspielten, wo Generationen verpeilter Doors-Fans nachts über die Mauern kletterten, um am Grab von Jim Morrison Partys zu feiern, gab und gibt es hier nicht.
Die Hauptader von Woodlawn weiter Richtung Süden, vorbei an sieben New Yorker Bürgermeistern, von denen nur noch einer den heutigen Stadtbewohnern ein Begriff ist, der große Inlandsflughafen trägt seinen Namen: Fiorello La Guardia, ein so kleinwüchsiger wie wortgewaltiger Republikaner, der die Metropole durch die Große Depression und den Zweiten Weltkrieg brachte.
Angesichts der winterlichen Stille von Woodlawn vergisst man fast, dass der Friedhof immer noch in Betrieb ist. Rund tausend Menschen werden hier jedes Jahr begraben, das Krematorium befindet sich quasi in Dauerbetrieb. In der jüngsten Vergangenheit hat diese Praxis, die laut dem Friedhofsmanagement seit Mitte der 80er enorm an Popularität gewonnen hat, zu Arbeitskämpfen geführt. Vor zwei Jahren wurden auf einen Schlag 23 Mitarbeiter mit der Begründung entlassen, dass man weniger Leute zur Landschaftspflege brauche, weil die Urnen in der Regel samt Namensschild in den Wänden der Mausoleen enden.
Die größte aller Attraktionen des Woodlawn Cemetery ist trotzdem immer noch die, die an einen erinnert, dessen Genie erst nach seinem Tod erkannt wurde und dessen Grab nicht zuletzt deshalb zur Pilgerstätte einer Zunft wurde, deren Angehörige sich zu Recht (selten) wie zu Unrecht (meistens) so verkannt fühlen wie ihr Idol zu Lebzeiten. 3715 Exemplare: So viel hatte der im Abschnitt I-7 Begrabene von seinem Opus Magnum verkauft, als er 1891 starb. Nicht nur für amerikanische Verhältnisse ein kapitaler Flop. Von den Millionen Lesern, die sein Werk nach seinem Tod fand und seiner Stellung im Pantheon der Weltliteratur als der Mann, der den amerikanischen Roman erfand, hatte er: nichts. Der Name des Schriftstellers lautet Herman Melville. Der des Buchs "Moby Dick". Auf seinem Grab liegen heute Steine und eine Handvoll ungelesener Manuskripte.