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Die britische Enklave Gibraltar hat die Herdenimmunität geschafft - die Öffnung erfolgt trotzdem vorsichtig.
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Im "Lord Nelson Pub" auf Gibraltars Casemates Square ist kaum noch ein Tisch frei. Gleich beginnt das Viertelfinale der Champions League mit dem Duell Liverpool gegen Real Madrid. Stuart, Jeff und Eric sind bereits in guter Stimmung. Sie haben den besten Platz direkt vor dem Fernseher erwischt. Mit Guinness-Bier in der Hand stimmen die drei Liverpool-Fans die Vereinshymne "You’ll never walk alone" an. Die Fußballkneipenszene wirkt vertraut und doch so ungewohnt wie befremdlich. Niemand trägt Mundschutzmasken. Man sitzt eng zusammen, teilt sich einige Tapas. Es wird gesungen, gefeiert, gejubelt, geflucht. "Wie ich diese Fußballabende mit meinen Freunden vermisst habe. Es tut gut, wieder ein relativ normales Leben führen zu können", sagt Stuart.
Gibraltar, die kleine britische Enklave am Südzipfel Spaniens, hat bereits das erreicht, worauf Österreich und der Rest Welt wohl noch mindestens bis zum Herbst warten müssen: die Herdenimmunität gegen das Coronavirus. Seit Mitte April sind mit 85 Prozent praktisch alle Einwohner über 16 Jahre gegen Covid-19 geimpft. Unter den über 60-Jährigen sind sogar 98 Prozent der Bevölkerung immunisiert. Seitdem herrscht in Bars und Restaurants, auf den Straßen und in den meisten Einrichtungen keine Maskenpflicht mehr.
Es gibt auch keine nächtlichen Ausgangssperren mehr. Bars und Restaurants sind jetzt wie vor der Pandemie wieder bis 2 Uhr morgens offen. Die Bürger können sich wieder problemlos mit mehreren Freunden treffen. Schulen, Geschäfte, Kinderspielplätze, Kirchen, Theater und sogar Fitness-Studios sind wieder geöffnet. "Seit zwei Wochen können wir auch wieder ohne Masken trainieren", freut sich Patrick vom Peak Gym Gibraltar. Sogar Live-Konzerte und Fußballspiele dürfen wieder mit Zuschauern stattfinden.

Logistisch war die Durchimpfung Gibraltars bei knapp 34.000 Menschen kein größeres Problem. Zumal London planmäßig Anfang Jänner die notwenigen Impfstoffe von Pfizer-
BioNTech schickte. Zudem führte die Regierung einen Impfpass ein und erstellt derzeit ein digitales Impfregister, das mit den Systemen des Vereinigten Königreichs sowie der Europäischen Union gekoppelt werden kann. Außerdem hat jeder eine App, die Impfdaten und Testergebnisse speichert.
Kein einziger Infizierter
Derzeit ist kein einziger Einwohner des britischen Überseegebiets an der Meerenge zwischen Europa und Afrika mit Covid-19 infiziert. Grund dafür war neben einer gut geplanten Impfkampagne auch das Verhalten der Bürger, stellt Gesundheitsministerin Samantha Sacramento klar. "Mit einer Größe von gerade einmal 6,7 Quadratkilometern hat Gibraltar eine extrem hohe Bevölkerungsdichte. Ich glaube, alle waren sich bewusst, dass sie verantwortlich handeln müssen, um eine größere Katastrophe zu verhindern. Jeder kennt hier jeden. So war auch eine enorm große Solidarität zwischen den Generationen zu spüren", erklärt Sacramento in ihrem Büro im obersten Stockwerk des örtlichen St. Bernard’s Krankenhauses.

So verlief die Pandemie lange relativ milde, bis Mitte Dezember wohl über Direktflüge aus London die britische Corona-Variante auch Gibraltar erreichte. Insgesamt infizierten sich 4.291 Menschen, 94 starben - der Großteil zwischen Anfang Dezember und Mitte Jänner. Das dürfe sich nicht wiederholen, sagt Gesundheitsministerin Sacramento, und "deshalb ist die Impfung nun auch kein Freibrief, zur alten Normalität überzugehen. Wir müssen weiterhin vorsichtig sein und führen trotz der Durchimpfung der Bevölkerung nur langsam und schrittweise Lockerungen ein." So herrscht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Einrichtungen sowie in Geschäften weiterhin Maskenpflicht. Busse dürfen nur zur Hälfte besetzt werden. Kellner, Putz- und Pflegepersonal müssen noch bis 1. Mai weiterhin Masken tragen. "Soziale Distanz und Händewaschen bleiben wichtig - trotz Impfung", betont die Gesundheitsministerin.
Auch bei Großveranstaltungen wie Fußballspielen lockert man nur nach und nach. Beim WM-Qualifikationsspiel gegen die Niederlande waren Ende März erstmals 600 Zuschauer zugelassen. Voraussetzung war, dass die Besucher beide Impfdosen erhalten hatten und am Tag des Spiels einen negativen Corona-Schnelltest mitbrachten. Seit einer Woche dürfen in Gibraltars Victoria Stadium nun 50 Prozent der insgesamt 5.000 Plätze belegt werden. Ab 30. April dürfen es 66 Prozent sein, ab 14. Mai dann 100 Prozent.
Einwohner ziehen mit
Alles hänge natürlich davon ab, ob Gibraltar weiterhin "Covid-free" bleibe, heißt es. Doch Gesundheitsministerin Sacramento gibt sich positiv. In einem kleinen Gebiet wie dem ihren mit einer ebenfalls kleinen Regierung könne man zudem "sehr schnell und effektiv auf Veränderungen reagieren und kurzfristig Lockerungen zurückziehen und Gegenmaßnahmen einleiten". Sie hat bereits Notfallpläne ausgearbeitet, darunter auch die Auffrischung der Impfungen mit sogenannten Boostern.
Die Einwohner unterstützen die vorsichtige Öffnung trotz Herdenimmunität. Obwohl auf der Straße und in den meisten Gebäuden und Bars keine Maskenpflicht mehr herrscht, tragen sie trotzdem noch viele. "Wir sind verunsichert", meint Veronica Ronco. Die 46-jährige Mutter von zwei Kindern hatte sich zwar nicht infiziert. "Aber mehr als 4.000 wurden krank, fast 100 sind gestorben. Das war bei einer so kleinen Bevölkerung schon alles sehr beängstigend", meint Ronco. Sie arbeitet bei einem Hörgerätehersteller und hat vor allem mit älteren Menschen zu tun. "Allein aus diesem Grund bin ich schon vorsichtiger", erklärt sie.
Auch ihre Chefin wurde bereits in Gibraltar geimpft. Dabei ist María Sol Vázquez Spanierin und lebt eigentlich in der Grenzstadt La Línea de la Concepción, wo sie eine zweite Firmenfiliale unterhält. Doch täglich pendelt sie wie fast 15.000 andere Spanier über die Grenze und das dahinter liegende Rollfeld des Flughafens nach Gibraltar. Die meisten von ihnen arbeiten im Gesundheits- und Pflegesektor, im Gastronomiebereich sowie in den zahlreichen Geschäften des Shopping-Paradieses. "So haben wir selbstverständlich auch die bei uns arbeitenden Spanier geimpft. Die Pandemie kennt keine Grenzen", sagt Gesundheitsministerin Sacramento.
Brexit als Störfaktor
Gibraltars Ringen um die Widererlangung der Normalität hat gerade erst begonnen. Man will es ruhig angehen. Gleichzeitig muss sich die kleine Landzunge allerdings öffnen - vor allem für Touristen. So hat die Regierung bereits in Großbritannien eine großangelegte Werbekampagne für den Besuch im "Covid-freien" Gibraltar gestartet. "Der Tourismus macht fast 45 Prozent unseres gesamten BIPs aus. Wir müssen einen Mittelweg zwischen Öffnung und Schutz finden", meint Tourismusminister Vijay Daryanani. Er hofft, dass im Sommer die einzige Gefahr wieder von den frechen Berberaffen oben auf dem Felsen ausgeht, die den Touristen ihre Butterbrote und Wasserflaschen aus der Hand klauen.

Doch diese Hoffnung könnte trotz Herdenimmunität und erfolgreicher Impfkampagnen in Großbritannien und in der EU noch von etwas anderem gestört werden, was viele im Zuge der Pandemie schon fast vergessen hätten: dem Brexit. Am 31. Dezember einigten sich Madrid und London im allerletzten Augenblick darauf, dass Gibraltar dem Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen beitreten könne. Es fehlten nun noch wenige Stunden bis zum EU-Austritt Großbritanniens.
Über die Details wollen sich nun alle drei Seiten bis Ende Juni einigen, erklärt Gibraltars Vizeregierungschef und Brexit-Unterhändler Joseph García. Mit Blick auf den Waren- und Personenverkehr sowie die Steuervorteile gibraltarischer Unternehmen im Schengen-Raum muss noch viel verhandelt werden. García ist allerdings optimistisch, dass Ende Juni eine Einigung erreicht wird: "Es ist im wirtschaftlichen Interesse aller Beteiligten."
Bloß keine Grenzkontrollen
Für Gibraltar wären Grenzkontrollen eine Katastrophe. Die Einwohner Gibraltars kaufen in Spanien ein, gehen hier zum Arzt, besitzen Immobilien auf der spanischen Seite. Die meisten Lebensmittel kommen aus dem Nachbarland. So lehnte Gibraltar beim Referendum im Jahr 2016 den Austritt Großbritanniens aus der EU auch mit einer überwältigenden Mehrheit von 95,6 Prozent ab.
Auch für die spanische Umgebung wäre eine "harte" Brexit-Grenze mit Gibraltar eine wirtschaftliche Katastrophe. Vor allem die Grenzstadt La Línea hängt wirtschaftlich von Gibraltar ab. Die Region gilt mit einer Arbeitslosenquote von fast 35 Prozent als eine der strukturschwächsten des Landes. Umgekehrt hängt aber auch Gibraltar von den vielen spanischen Arbeitern ab. "Wir brauchen praktische Lösungen zum Wohl der Menschen in der Region", gibt auch Spaniens Außenministerin Arancha Gonzalez Laya zu. Das ändere allerdings nichts am Souveränitätsanspruch Spaniens auf die strategisch wichtige Halbinsel zwischen Europa und Afrika, die Spanien 1713 im Zuge der Spanischen Erbfolgekriege an Großbritannien abtreten musste.
"The Rock", der Affenfelsen von Gibraltar, hat immer wieder zu Konflikten zwischen Madrid und London geführt. Schon einmal litten die Einwohner Gibraltars unter einer Grenzschließung, als Spaniens Diktator Francisco Franco im Streit über die Hoheitsrechte 1969 die Grenze komplett schloss. Erst 1985 wurde sie in der noch jungen spanischen Demokratie wieder geöffnet. "Während der Ausgangssperren und des Corona-Lockdowns musste ich oft an diese schwere Zeit zurückdenken. Während der Pandemie waren wir doppelt eingesperrt - zu Hause und in Gibraltar", erinnert sich Gigi Sene. In der Cloister Ramp Straße unterhält sie seit mehr als 20 Jahren das Schreibwaren- und Büromöbelgeschäft "The Beacon Press".

Bisher gibt es aber kaum Personal- und Warenkontrollen an der Grenze. "Und wir werden alles tun, damit das auch so bleibt", stellt Vizeregierungschef García klar. Das wünschen sich auch die tausenden Arbeitspendler aus Spanien. Die gesamte Bucht von Algeciras hängt vor allem davon ab, dass Gibraltar wieder wie vor der Pandemie von bis zu sieben Millionen Touristen pro Jahr besucht wird. Das britische Überseegebiet unter Palmen lockt vor allem Briten mit Stränden und viel Sonne. Ein Stück Großbritannien unter Palmen. Kellner servieren Paellas mit spanischem Rotwein und Fish and Chips mit britischem Bier.
Konsum erholt sich langsam
Normalerweise bummeln tausende Touristen durch die Main Street und die umliegenden Einkaufsstraßen. Sie decken sich mit Zigarettenstangen, Spirituosen, Uhren, Parfüms und Kleidung ein. Das britische Überseegebiet ist ein Shopping-Paradies ohne Mehrwertsteuer. "Bisher tut sich aber nicht viel. Aus Großbritannien kommen nur wenige Flüge. Auch die fast 200.000 an der Costa del Sol lebenden britischen Residenten, unsere Hauptkunden, bleiben noch fern", erklärt María José Lara. Die 49-jährige Spanierin aus La Línea de Concepción verkauft in der Main Street in einem der vielen Duty-Free-Läden Gibraltars Tabak und Spirituosen.
Doch zumindest die Einwohner Gibraltars fangen langsam an, wieder zu konsumieren. Allan Oncina muss im "Lord Nelson Pub" zumindest ein Bier nach dem anderen zapfen. "Ich habe die Stelle vor einem Monat bekommen, weil das Leben hier nun wieder richtig beginnt. Es fühlt sich gut an, und über den Job bin ich wirklich froh. In Spanien habe ich während der Pandemie nichts gefunden", sagt der 24-jährige Spanier, der auch schon seine erste Impfdosis erhalten hat. Er bringt Stuart und seinen Freunden eine letzte Runde Guinness. Es ist zwar erst 23 Uhr, aber die Fußballfans haben keine Lust mehr zu trinken. Die Stimmung ist am Boden. Real Madrid hat den FC Liverpool aus der Champions League gekickt.
Die vielfach angestrebte Herdenimmunität, bei der eine Bevölkerung vor einem Erreger geschützt ist, weil ein Großteil der Bevölkerung gegen diesen Erreger immun ist, wird im Fall von Sars-CoV-2 durch die Impfungen eher nicht großflächig zu erreichen sein. Für die Herdenimmunität wäre es notwendig, dass die Impfung die Vermehrung des Virus so gut wie komplett unterbindet und somit auch seine Weitergabe so sehr erschwert, dass sich das Virus nicht mehr ausreichend reproduzieren kann, um seine Population zu erhalten. Dies scheinen die Impfungen nicht zu leisten. Das Robert-Koch-Institut in Deutschland hielt kürzlich in einer kryptischen Formulierung fest, dass das Risiko einer Virusübertragung bei geimpften Personen niedriger sei als bei symptomlos infizierten Personen, deren Antigene nicht nachgewiesen werden konnten.
Was Impfungen durch die partielle Immunisierung jedoch abgesehen von der Verhinderung schwerer Erkrankungen erreichen können, scheint eine Verlangsamung des Mutationsgeschehens zu sein.(Cal)