Wenn die Bevölkerung direkt mitentscheidet, muss sie mehr Verantwortung ausüben - kann sie das?
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Wien. Es hat schon etwas Symbolhaftes, wenn man die Wahlzelle als eine Art Wurzel der Demokratie versteht. Denn sie ist ein Ort, den es eigentlich nicht gibt, der nur alle paar Jahre für wenige Stunden aufgebaut wird, um dann wieder zu verschwinden. Im Idealbild der parlamentarischen Demokratie ist sie dennoch ein Ort der Hoffnung, der Überzeugung und des Optimismus, mit seiner Stimme, auch wenn sie nur eine unter vielen sein mag, die Stadt, das Land oder vielleicht sogar Europa zu verändern.
Die Wahlzelle kann aber auch zum Tatort werden, wenn Ärger und Egoismus in unheilvoller Allianz zusammentreffen, die Sachlichkeit verbannt wird, und dadurch mitunter das Wohl einer Gemeinschaft gefährdet wird. Und es ist genau dieses Bild, das wie ein Drohszenario von Skeptikern der direkten Demokratie in die öffentliche Debatte eingebracht wird, in der stets die zentrale Frage steht: Wie viel Direktheit verträgt eine Gesellschaft?
Nur wenige Monate nach dem Demokratiepaket Nummer eins haben sich Regierung sowie Grüne auf einen zweiten Gesetzesentwurf verständigt, der die direkte Demokratie aufwertet. Nicht weit genug, befinden die anderen Oppositionsparteien sowie Bürgerinitiativen und NGOs, doch dieses Paket könnte doch weitreichende Änderungen, und zwar gesellschaftlicher Natur bedeuten.
Keine Volksabstimmung
Der direkte Weg von einem Volksbegehren zu einer verpflichtenden Volksabstimmung bleibt, zumindest vorerst, versperrt. Doch künftig soll ein erfolgreiches Begehren, wenn es als Gesetzestext formuliert und nicht vom Parlament beschlossen wird, zu einer verpflichtenden Volksbefragung führen. Die ist für eine Regierung zwar nicht bindend, aber doch ein sehr starkes Druckmittel. Bei der Befragung zur Wehrpflicht im Jänner hatten sich SPÖ und ÖVP sogar im Vorfeld darauf festgelegt, den Volkswillen umzusetzen.
Die Grünen wollten zwar eine verpflichtende Volksabstimmung, nehmen jetzt aber auch die Volksbefragung. "Es war ein Kompromiss", sagt Daniela Musiol, Verfassungssprecherin der Grünen. Sie verweist auch darauf, dass Juristen wie Theo Öhlinger und Franz Merli im Hearing diese Variante präferiert haben. Die Politik hat damit eine Art Vetorecht.
Um die Leiter der direkten Demokratie zu erklimmen, müssen Volksbegehren von zehn Prozent der Wahlberechtigten, etwa 650.000 Menschen, unterschrieben werden, bei Verfassungsgesetzen sind es sogar 15 Prozent.
Für Greenpeace Österreich ist diese Hürde zu hoch, wie Sprecherin Hanna Simons kritisch anmerkt: "Dieser Weg sollte auch für finanzschwache Institutionen offen stehen." Um zehn Prozent zu erreichen, wird jedoch eine große, kostspielige Kampagne nötig sein. Bisher haben auch nur zehn Begehren diese Hürde übersprungen. "Das ist für uns nicht die Idealvariante, aber das war nicht zu verhandeln", sagt Musiol.
Initiativen wie etwa beim Bildungsvolksbegehren, die primär das Ziel haben, eine öffentliche Diskussion in Gang zu bringen, wird es auch weiterhin geben können und durch ein Rederecht im Parlament im Erfolgsfall werden sie auch aufgewertet, doch um die zweite Stufe, die Volksbefragung, zu erreichen, muss einkonkreter Gesetzestext formuliert werden, der von der Bundeswahlbehörde geprüft wird. So darf dieser nicht gegen EU-Recht, Völkerrecht oder verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte verstoßen.
Solidarität als Grundlage
Beim Hearing wurde auch angeregt, keine Begehren zuzulassen, die geeignet sind, Personen wegen ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft zu benachteiligen, doch dieser Passus, der auch von NGOs eingefordert wird, findet sich vorerst nicht in dem präsentierten Entwurf, der am Freitag im Ausschuss behandelt wird und dann in Begutachtung gehen soll.
Für Herta Wessely, die Obfrau der Aktion 21, in der sich diverse Bürgerinitiativen formiert haben, ist die Einigung " nur ein kleiner Halbschritt", der das System nicht verändern wird. Doch vielleicht ist die Kehrtwende auf der Straße der Demokratie auch gar nicht so unproblematisch. Auch Wessely sagt: "Veränderung muss auf beiden Seiten passieren." Also auch beim Volk, dem Souverän.
Der Rechtsphilosoph Stefan Hammer vom Juridicum sagt: "Ich würde es als Vorstufe gegenüber einem verpflichtenden Referendum bevorzugen." Mit jedem Recht gibt es auch Pflichten, in diesem Fall demokratische Pflichten wie eine Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl. Eine Solidargesellschaft sei Voraussetzung dafür, dass direkte Demokratie funktioniere, sagt Hammer. In der Schweiz, in der die direkte Demokratie zur Folklore gehört, erkennt er diese. "Man ist dort eher besorgt um das Gemeinwesen und entwickelt keine zynische Haltung gegenüber der politischen Klasse." Wer direkt mitbestimmt, hat auch automatisch eine größere Mitverantwortung.
Bei der ersten und einzigen österreichweiten Volksbefragung, jener über die Wehrpflicht im Jänner, hatten zwei Drittel der über 60-Jährigen für die Beibehaltung gestimmt, bei den unter 30-Jährigen, die viel unmittelbarer davon betroffen sind, wollte eine Mehrheit laut Umfrage ein Berufsheer. Geht man die Liste der bisher 37 Volksbegehren durch, ergeben sich weitere, wesentliche Fragen: Sollen Männer über Frauenrechte abstimmen dürfen ("Schutz des menschlichen Lebens", 1975)? Inländer über Ausländer ("Österreich zuerst", 1993)? Oder: Wer übernimmt die Verantwortung, wenn das Volk in sicherheitspolitischen Fragen anders entscheidet als eine Regierung, und dann ein Terrorakt passiert ("Gegen Abfangjäger", 2002)? In der Wahlzelle ist ja Anonymität gewahrt.
Sorge vor Populismus
Daniela Musiol ist überzeugt davon, dass der direktere Einfluss der Bevölkerung einen Lernprozess in Gang setzen wird. "Ich glaube, dass diese Möglichkeiten zu einem Nachdenken führen." Im Vorfeld der Wehrpflicht-Befragung habe es auch vermehrt Diskussionen gegeben, "und so etwas kann zu einer Politisierung und Solidarisierung führen".
Die auch andernorts gestellte Frage, ob eine Gesellschaft, die parlamentarische Demokratie gewohnt ist, reif für ihre direkte Ausformung sein kann - diese Debatten werden auch in Deutschland geführt -, erinnert ein wenig an die berühmte Henne-und-Ei-Frage. Was war zuerst beziehungsweise was muss zuerst passieren, damit es funktioniert? "Es müssen Formen gefunden werden, bei denen die Bürger lernen, dass es sich bei den rechtlichen Rahmenbedingungen, die derzeit als Einschränkung empfunden werden, um Voraussetzungen handelt, die sie sich selbst aneignen können", sagt Rechtsphilosoph Hammer.
Dieser Lernprozess kann freilich auch seine Tücken haben, wie nicht zuletzt die populistischen Kampagnen der Regierungsparteien (Stichwort: Katastrophenschutz) in der Wehrpflicht-Debatte gezeigt haben. "In der ersten Phase dieses Prozesses könnte sich das auch in einem populistischen Abstimmungsverhalten niederschlagen, wenn es darum geht, sich Luft zu machen", sagt Hammer. "In weiterer Praxis wird sich das abmildern, wenn die Leute gewohnt sind, einbezogen zu werden. Dann sinkt der Frustpegel und macht einem ausgewogenen Gebrauch der Urteilskraft Platz."